04 - komplett
Himmel, nein“, erwiderte er sofort unbehaglich. „Freddie ist ganz in Ordnung. Er war einer von uns, nur eben kein besonderer Freund von mir.“
„Nicht wie Jack?“
„Nein, ganz und gar nicht wie Jack.“
Plötzlich bemerkte Cassie, dass sie angestarrt wurden. Und zwar von einer recht hochgewachsenen, üppigen und ausgesprochen schönen Dame mit den fesselndsten dunklen Augen, die sie je gesehen hatte.
„Wer ist das?“, fragte sie Vincent. „Diese eindrucksvolle, ein wenig füllige Dame, die uns ziemlich durchdringend anstarrt. Kennst du sie?“
La Valentina wäre gewiss nicht erfreut gewesen, hätte sie gehört, dass man sie als füllig beschrieb. Stattlich war gemeinhin der Ausdruck, den man für eine so üppige Figur wie die ihre anwandte.
Vincent zögerte nur kurz. Zu dumm, dass ausgerechnet La Valentina an diesem Abend anwesend war. Da er nichts mehr daran ändern konnte, nickte er der Schönheit gelassen zu. „Jeder kennt La Valentina. Sie ist Opernsängerin und wird allgemein für ihre liebliche Stimme bewundert.“
„Oh ...“ Cassie hatte das seltsame Gefühl, er suchte etwas vor ihr zu verbergen.
Vergeblich wartete sie darauf, dass er sie ihr vorstellte. Er nickte La Valentina nur ein weiteres Mal im Vorbeigehen zu und schlug dann unbeirrt den Weg zum Speisesaal ein. „Ich hätte sie gern kennengelernt.“
„Ein anderes Mal. Sie wird nach dem Souper für uns singen, und wenn sie eine Vorstellung gibt, schont sie ihre Stimme gern.“
„Ja, das kann ich verstehen.“ Trotzdem glaubte Cassie, dass er absichtlich einem Gespräch mit der Frau ausgewichen war.
„Vergiss sie“, wies er sie ein wenig zu barsch an. „An einige Dinge rührt man besser nicht. Sie ist nicht wichtig.“
Cassie erwiderte nichts. Zwar war sie sehr unerfahren, was die weltlichen Dinge anging, doch dumm konnte man sie nicht nennen. Sie wusste sehr wohl, dass viele Gentlemen sich eine Geliebte hielten, besonders wenn sie unverheiratet waren. Ein Mann in Vincents Alter hatte sehr wahrscheinlich schon viele Geliebte in seinem Leben gehabt. Cassie spürte, dass zwischen ihm und La Valentina eine enge Beziehung bestand. Nur durfte sie das nicht wichtig nehmen. Sicherlich musste diese Beziehung inzwischen vorbei sein. Cassie war im Innersten davon überzeugt und dennoch unruhig. Was natürlich ganz albern von ihr war!
Auf keinen Fall durfte sie Vincent oder irgendjemanden sonst merken lassen, wie sehr sie die zufällige Begegnung aufgewühlt hatte. Also hob sie lächelnd den Kopf, sah sich um und winkte Sarah zu, die bereits mit Harry und Lady Longbourne an der Tafel saß.
„Wollen wir uns zu deiner Mutter und Sarah gesellen?“, fragte sie mit einem etwas zu strahlenden Lächeln.
„Ja, natürlich. Wie du möchtest.“
Vincent war beunruhigt. Cassie war eine scharfsinnige Frau, und es konnte ihr nicht entgangen sein, welche Rolle La Valentina in seinem Leben gespielt hatte. Leider hatte sich diese Begegnung nicht vermeiden lassen. Seine Mutter hatte eine berühmte Künstlerin eingeladen, ohne ihre Verbindung zu ihm zu ahnen. Nun, irgendwann hätte Cassie sowieso davon erfahren, auch das hätte er nicht vermeiden können. Seine Hauptsorge war jedoch, Cassie könnte etwas herausbekommen, das sie sehr viel mehr bestürzen würde.
Was würde sie erst denken, wenn sie hörte, dass ihr Bruder seinen Freunden das Versprechen abgenommen hatte, einer von ihnen müsse sie heiraten – und dass sie darum gelost hatten, wer den ersten Versuch unternehmen musste!
Um nichts in der Welt wollte er ihr wehtun! Er beobachtete lächelnd, wie sie mit ihrer Freundin und seiner Familie lachte und plauderte. Sie hatte sich von dem unangenehmen Zwischenfall von eben erholt. Offensichtlich akzeptierte sie die Tatsache, dass er eine Geliebte gehabt hatte. Genau das erwartete er auch von einer vernünftigen Frau wie ihr. Sie sah sogar wieder mit dem gleichen Vertrauen zu ihm auf.
Ein seltsamer Schmerz durchfuhr sein Herz. Was als Pflicht begonnen hatte und die Möglichkeit, sein Gewissen zu besänftigen, war sehr viel mehr geworden. Cassie war so viel liebenswerter, als er je vermutet hätte. Bisher hatte er in ihr nur die Schwester seines besten Freundes gesehen, ein lebhaftes Mädchen, das er von einem Baum gerettet hatte. Doch nun war sie eine Frau, die er zu bewundern begann, und er stand vielleicht sogar im Begriff, sich unsterblich in sie zu verlieben.
Wie es aussah, mochte sie ihn recht gern. Sie vertraute ihm als Gentleman und
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