04 - komplett
sie es sich nur ein, und es gab nicht wirklich einen Grund für sie, so bekümmert zu sein? Dass Carlton eine Geliebte gehabt hatte, die alles das verkörperte, was sie selbst nie sein konnte, sollte ihr nichts ausmachen. Doch es machte ihr sogar sehr viel aus!
Cassie griff nach ihrem Taschentuch und betupfte sich hastig die Augen. Sie würde nicht weinen! Wie dumm von ihr, wegen etwas Trübsal zu blasen, das sich nun einmal nicht ändern ließ. Sie hatte doch schon immer gewusst, wie unwahrscheinlich es war, sie könnte jemals die wahre Liebe finden. Und sie hatte es auch gar nicht gewollt, aus Angst verletzt zu werden. Sie hatte sich mit einem angenehmen Leben zufriedengeben wollen – nur erkannte sie jetzt, dass es ihr nicht mehr genügte.
Sie wollte geliebt werden, von ganzem Herzen und aus tiefster Seele geliebt! Ihr Gatte sollte ihr zuliebe alle anderen Frauen aufgeben. Doch wie konnte sie so etwas erwarten, wenn La Valentina so wunderschön war?
Seufzend schloss Cassie die Augen und öffnete sie sofort wieder, als jemand sie plötzlich ansprach.
„Ist Ihnen nicht gut, Miss Thornton? Kann ich Ihnen behilflich sein?“
Cassie wirbelte erschrocken herum und blickte in die Dunkelheit hinaus. Erleichtert lächelte sie, sobald sie Major Saunders aus den Schatten treten sah.
„Danke, aber es geht mir jetzt besser“, erwiderte sie. „Ich ... mir tat der Kopf weh, und ich wollte ein wenig Luft schnappen. Am besten gehe ich wieder hinein und entschuldige mich bei dem Gentleman, den ich bei diesem Tanz versetzt habe.“
„Sind Sie sicher, dass ich nichts für Sie tun kann?“ Er kam näher und sah sie besorgt an, eine Hand erhoben, als wolle er sie berühren. Doch Cassie wich zurück, und er ließ die Hand wieder sinken. „Ich würde alles für Sie tun, Miss Thornton. Falls Sie unglücklich sind oder in Not ...“
„Nein, nein“, unterbrach Cassie ihn überrascht und errötete. „Sie sind sehr freundlich, aber ich bin ganz und gar nicht unglücklich. Ich versichere Ihnen, es war nur Kopfweh, und nun ist es auch schon vorbei.“
„Dann vergeben Sie mir, dass ich Sie so direkt angesprochen habe.“
„Aber nein“, stammelte sie. „Es ist nicht ... Sie sind sehr freundlich.“
Der Ausdruck seiner Augen zeigte ihr deutlich, wie sehr er sich zu ihr hingezogen fühlte, dabei hatten sie sich doch gerade erst kennengelernt.
„Verzeihen Sie, Major“, sagte sie verlegen, „aber ich muss hineingehen, sonst wird man nach mir suchen.“
George Saunders stand noch einen Moment regungslos da, nachdem Cassie gegangen war, und zog an seiner Zigarre. Er merkte nicht, dass außer ihm noch jemand dort stand und ihn, verborgen hinter einem großen Rosmarinbusch, finster betrachtete. Als er seine Zigarre austrat und in den Ballsaal ging, blieb sein heimlicher Beobachter zurück.
Vincent war auf der Suche nach dem Major auf die Terrasse hinausgetreten, doch da er ihn dabei vorgefunden hatte, etwas zu genießen, das deutlich nach einem Tête-à-
tête mit Cassie aussah, war er nicht hervorgekommen.
Es war offensichtlich gewesen, dass das Gespräch beide stark berührte. Cassie war verstört, verlegen, vielleicht sogar verzweifelt. Und George Saunders machte den Eindruck eines Mannes, der die Frau verloren hatte, die er am meisten begehrte.
Vincent rieb sich die plötzlich schmerzende Stirn. Vielleicht las er auch zu viel in etwas, das womöglich nur eine zufällige Begegnung war. Saunders wollte hier draußen nur eine Zigarre rauchen, und Cassie hatte etwas Luft schnappen wollen. Es musste nicht unbedingt ein heimliches Stelldichein sein. Doch warum hatte Cassie dann so bekümmert gewirkt?
Ihren Aufenthalt in London genoss sie in vollen Zügen, das wusste er. Durch nichts hatte sie zu erkennen gegeben, sie sei nicht mit ihrem Los zufrieden – allerdings hatte sie auch mit keinem Wort, keiner Geste angedeutet, dass sie in ihn verliebt war. Konnte es sein, dass sie plötzlich entdeckt hatte, wie viel mehr es zwischen zwei Menschen geben konnte, wenn sie sich liebten?
Man konnte sich schließlich auf den ersten Blick in jemanden verlieben, das wusste Vincent nur allzu gut. Was er nicht wusste, war, ob Cassie sich in den Major verliebt hatte. Und wenn ja, müsste ich sie dann nicht freigeben? überlegte Vincent.
7. KAPITEL
Cassie fühlte sich erschöpft, als sie sich in den frühen Morgenstunden von ihrer Gastgeberin verabschiedete. Zwar hatte Vincent sie, seine Mutter und Sarah nach Hause begleitet, doch er
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