04 - komplett
hatte während der Fahrt kein einziges Wort mit ihnen gewechselt, und sobald er ihnen recht knapp in der Empfangshalle eine gute Nacht gewünscht hatte, war er in seiner Bibliothek verschwunden.
„Ich weiß nicht, was in Carlton vorgeht“, sagte seine Mama zu Cassie und Sarah und unterdrückte mühsam ein Gähnen. „Ich habe ihn selten so griesgrämig erlebt. Nach dem Souper hat er dem armen Harry fast den Kopf abgerissen.“
„Ja, den ganzen Abend war er ziemlich still“, stimmte Cassie zu. „Glaubst du, er macht sich wegen irgendetwas Sorgen?“
„Nun, im Moment bin ich zu müde, um darüber nachzudenken“, erwiderte Lady Longbourne. „Sein Vater war manchmal unangenehm, aber Vincent schien immer sehr ausgeglichen. Diese kalte Zurückhaltung sieht ihm überhaupt nicht ähnlich.“ Sie gähnte hinter vorgehaltener Hand. „Nun, ich gehe zu Bett, meine Lieben. Und vor dem Mittagessen werde ich wohl auch nicht aus meinem Zimmer kommen.“
Cassie küsste sie, dann Sarah, und schließlich zogen sich alle auf ihre jeweiligen Zimmer zurück. Janet wartete bereits auf Cassie, um ihr beim Auskleiden zu helfen.
„Du hättest nicht die ganze Nacht aufbleiben sollen, Janet“, sagte Cassie besorgt.
„Eins der Mädchen hätte mir doch helfen können.“
„Das wäre ja noch schöner, wenn ich Sie einer Fremden überlassen würde“, murrte Janet, um ihre Rührung zu verbergen. „Und ich wollte auch, dass Sie den neuesten Unsinn von mir hören. Dann erfahren Sie wenigstens die Wahrheit.“
Ihr Ton beunruhigte Cassie. „Was ist geschehen?“
Janet schnaubte verächtlich und begann, das Kleid ihrer Herrin aufzuknöpfen. „An allem ist natürlich dieser Monsieur Marcel mit seinen Allüren schuld! Für wen hält der Mann sich eigentlich?“
„Was hat Tara angestellt?“, fragte Cassie erschrocken. „Sag es mir gleich, Janet. Ich sehe dir an, dass es ernst ist.“
„Sie hat Salz in einen besonderen Sud getan, den er zubereitet hatte. Wenn man Seiner Hoheit glauben soll, dann hat die Brühe einen sehr zarten Geschmack und ist jetzt ruiniert. Er hat sie weggeschüttet, Tara minutenlang angeschrien und das unglaublichste Spektakel veranstaltet. Dann hat er gedroht, nach Frankreich zurückzukehren, weil man ihn hier angeblich nicht zu schätzen weiß.“
„Ach, du meine Güte.“ Cassie seufzte.
„Ja. Er will Tara nicht mehr in seiner Küche sehen. Aber das Ergebnis von allem ist, dass sie davongelaufen ist.“
„Was? Oh nein!“, rief Cassie entsetzt. „Wo kann sie denn hingegangen sein? Sie kennt doch niemanden in London. Bist du sicher, dass sie sich nicht irgendwo im Haus versteckt hat?“
„Wir haben überall gesucht.“ Janet schien mit den Tränen zu kämpfen, ein äußerst seltenes Vorkommnis bei ihr. „Dorkins hatte sie ins Herz geschlossen und ist nun böse auf Monsieur Marcel. Und Mrs. Dorkins sagt, sie bleibt in keinem Haus, das von einem verrückten Franzmann regiert wird.“
Cassie seufzte wieder. „Monsieur Marcel hat die Küche unter sich, Janet, und es war falsch von Tara, das nicht zu bedenken. Ich glaube auch nicht, dass Lord Carlton seinen Chefkoch verlieren möchte, oder?“
„Sicher, wenn Sie es so sehen“, gab Janet widerwillig zu. „Aber ich habe die Kleine lieb gewonnen. Dass sie jetzt irgendwo ganz allein herumläuft, jedem Menschen ausgeliefert, der ihr etwas Böses antun könnte, macht mir Angst.“
„Mir natürlich auch, Janet. Morgen müssen wir alles tun, um sie zu finden. Aber nein, jetzt ist ja schon morgen, nicht wahr?“ Sie konnte ein Gähnen nicht unterdrücken.
„Sie sind erschöpft und brauchen Ihre Ruhe, Miss Cassie. Legen Sie sich hin, und machen Sie sich keine Sorgen um Tara. Sie wird schon wieder auftauchen, sobald sie sich beruhigt hat.“
„Das hoffe ich sehr.“ Cassie küsste ihre alte Dienerin auf die Wange. „Gute Nacht, meine Liebe. Und danke, dass du mir selbst davon erzählt hast.“
Cassie trug den Kerzenleuchter ans Bett, nachdem Janet die Tür hinter sich geschlossen hatte. Sie setzte sich und blies die Kerze aus. Müdigkeit drohte sie zu überwältigen, doch verwirrende Gedanken ließen sie nicht zur Ruhe kommen.
Da war natürlich Taras Verschwinden, doch auf der anderen Seite gab es auch ihre eigenen Probleme. Alles war so harmonisch gewesen. Die Aufregung um die Hochzeitsvorbereitungen, ihre neue Garderobe und die Geschenke, mit denen sie überschüttet wurde, hatten sie so glücklich gemacht. Plötzlich hatte sie allerdings
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