Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
04 - Winnetou IV

04 - Winnetou IV

Titel: 04 - Winnetou IV Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
Vom Netzwerk:
nach von zwei bis zwanzig. Ich wartete nur einen Augenblick, dann wiederholte ich sie ebenso langsam und deutlich, wie er sie ausgesprochen hatte.
    „Uff, uff!“ hörte ich ihn dann verwundert rufen. „Bist du das wirklich, oder bist du es nicht?“
    „Ich bin es“, antwortete ich.
    „Und du hast mich gehört?“
    „So genau wie du jetzt mich. Nun gehst du jetzt auf die andere Kanzel, auf die zweite, und sagst etwas anderes.“
    „Was?“
    „Irgend etwas. Du sprichst eine Frage aus, und ich antworte dir. Also, jetzt!“
    „Gut, ich geh!“
    Auch ich stieg von meiner Kanzel herab und ging nach der anderen. Da gab es kein Gebüsch; ich war also schnell oben. Da hörte ich ihn drüben kommen. Büsche raschelten, Zweige knackten. Dann war er oben und fragte:
    „Bist du noch dort? Hörst du mich?“
    „Ja, ich höre dich“, antwortete ich ihm, ohne ihm aber zu sagen, daß ich inzwischen auch meinen Platz gewechselt hatte.
    „Soll ich vielleicht wieder zählen?“
    „Ja. Zehn andere Zahlen.“
    Er sagte die ungeraden Zahlen von einunddreißig bis neunundvierzig auf, und ich wiederholte sie ihm. Dann ließ ich ihn wieder nach der ersten Kanzel zurückkehren, um noch weitere zehn Zahlen auszusprechen. Ich sah ihn drüben kommen. Er stieg hinauf. Jedenfalls zählte er jetzt; ich hörte aber nichts. Nun wußte ich alles. Es handelte sich wirklich um eine Doppelellipse. Man konnte hören oder nicht hören, gehört werden oder nicht gehört werden, ganz wie es einem beliebte. Es kam nur auf die Orte an, die man wählte. Ich stieg von meiner Kanzel herab und ging nach dem Fahrweg zu. Da sah er mich und kam auch.
    „Du hast beim letztenmal nicht geantwortet“, sagte er. „Oder habe ich dich überhört? Welch ein Wunder, welch ein Wunder! Uff, uff! Auf so weit kann kein Mensch das gewöhnliche Wort verstehen, und doch habe ich dich verstanden! Wie ist das zu erklären?“
    „Denke darüber nach! Du bist es doch, der das Geheimnis erraten soll!“
    „Du scherzt! Warum soll ich mühsam erraten, was du genau schon weißt! Denn wüßtest du es nicht, so hättest du mir nicht die richtigen Plätze anweisen können. Werde ich es erfahren?“
    „Wenn Tatellah-Satah es erlaubt, ja.“
    „Aber jetzt darf ich ihm nichts davon sagen?“
    „Keinem Menschen! Du könntest großes Unheil anrichten, wenn du es auch nur einem einzigen verrietest. Jetzt komm hinauf nach dem Schloß; die Sonne geht schon unter!“
    Der Himmel war, so weit man ihn hier im Tal sehen konnte, von golddurchsichtigen Wölkchen überhaucht. Ein diamantenes Flammenzucken ging von Westen aus. Das blitzte und flimmerte im herrlichen Spiegel des Schleierfalles wider. Wie schade, wie jammerschade, daß die grad vor dem Fall sich erhebende tote steinerne Figur den Genuß dieser Schönheit fast unmöglich machte! Wir standen an der Krümmung der Straße und des Tales, an welcher man, von der oberen Stadt kommend, den Schleierfall zum erstenmal erblickte. Wir waren da stehen geblieben, um seinen Anblick zu genießen. Und nun störte uns diese fatale Figur, die, dem leichten duftigen Schleier entgegengesetzt, so schwer, so belastend, so bedrückend wirkte. Die Holzgerüste, welche sich vor diesem Schleier erhoben, taten dem Auge förmlich wehe, zumal man sie ohne Lot errichtet zu haben schien. Sie standen schief. Es gab nur einen einzigen Träger, der wirklich senkrecht stand. Diese Beobachtung machte ich nur so nebenbei. Sie erschien mir völlig unwichtig. Aber im Verlauf der irdischen Ereignisse gibt es nichts wirklich Bedeutungsloses; das sollte ich auch hier bald sehen.
    Wir gingen nun nach dem Schloß. Intschu-inta war unterwegs sehr still. Das Ergebnis unserer Nachforschung beschäftigte ihn innerlich. Oben angekommen, trennten wir uns. Er ging zu Tatellah-Satah, ich aber nach meiner Wohnung, wo ich das Herzle vermutete. Sie war auch da, und zwar nicht allein. Kolma Putschi war bei ihr. Beide saßen nebeneinander, Hand in Hand. Als ich eintrat, standen sie auf und kamen mir entgegen. Ihre Gesichter hatten den Ausdruck tiefer, ernster Rührung. Der Name Kolma Putschi ist dem Moquidialekt entnommen. Er bedeutet so viel wie Schwarzauge oder Dunkelauge. An diesem Auge, welches seinen Glanz noch immer besaß, erkannte ich sie sogleich wieder, obwohl sie sich übrigens sehr verändert hatte. Sie war bedeutend älter als ich. Ihre früher so elastische Gestalt hatte sich gebeugt. Ihr grauglänzendes Haar war in dünn gewordenen Zöpfen um den unbedeckten Kopf

Weitere Kostenlose Bücher