04 - Winnetou IV
und wer ihn meidet, den habe auch ich zu meiden.“
„Steht es so, wirklich so?“ fragte sie besorgt.
„Ja, so!“ bestätigte ich. „Nach den Gesetzen der roten Männer ist das Haus meines Wirtes auch mein Haus. Wer es verachtet, der verachtet auch mich!“
„Verzeih! Wenn du von Verachtung sprichst, so irrst du dich. Niemand wird es wagen, dich zu verachten!“
„Falsch! Nicht ich bin es, der sich irrt. Ich wurde eingeladen, nach dem Mount Winnetou zu kommen. Ich kam. Man hatte mich zu empfangen, mich zu begrüßen, mich willkommen zu heißen. Wer hat das getan? Niemand kam zu mir. Ich wurde aufgefordert, zu euch zu kommen, euch nachzulaufen. Nun sollst du die Antwort hören, die ich euch hierauf erteile.“
Das Herzle gab mir einen heimlichen Wink, doch nicht in diesem energischen Ton zu sprechen; es war ja doch eine Frau, die ich vor mir hatte. Ich aber wußte gar wohl, was ich wollte, und fuhr in derselben Weise fort:
„Ich bitte Kolma Putschi, zu Old Surehand und Apanatschka zu gehen und ihnen zu sagen, daß ich sie für morgen zum Mittagessen zu mir einlade, hierher, in meine Wohnung. Es werden auch noch andere Personen geladen sein, doch wer sie sind, das weiß ich jetzt noch nicht.“
Da wurde ihr Gesicht ernster, als es so schon war.
„Du meinst, daß meine Söhne kommen werden?“ fragte sie.
„Ich hoffe es!“
„Zu Mittag?“
„Genau zu Mittag, keine Minute später.“
„Und wenn sie nicht kommen?“
Bei dieser Frage waren ihre Augen in größter Spannung auf mich gerichtet. Ich antwortete:
„So nehme ich das als die größte Beleidigung, die mir widerfahren ist; der Kampfplatz wird sofort abgesteckt, und die Kugeln werden sprechen!“
„Zwischen solchen Freunden, wie ihr gewesen seid?“
„Ein Freund, der mich beleidigt, ist schlimmer als ein Feind! Sag ihnen das! Teile ihnen mit, daß ich zwar grau geworden, aber noch immer der alte bin! Wenn sie nicht kommen, schießen wir uns. Und dann wird euer ganzes Komitee zum Teufel gejagt und ein anderes, würdigeres gewählt. Winnetou war Häuptling der Apatschen. In welcher Weise er zu ehren ist, darüber haben nur Apatschen zu bestimmen!“
„Wenn Old Shatterhand droht, so ist das, was er droht, so sicher und gewiß, als sei es bereits geschehen. Du sprichst im Ernst?“
„Im vollen Ernst! Weshalb hat Winnetou gelebt? Weshalb ist er gestorben? Etwa um einen jungen Maler und einen jungen Bildhauer berühmt zu machen? Und wie haben diese beiden unerfahrenen Leute ihn dargestellt? Wo ist sein Geist, wo seine Seele? Jeder Cowboy, Runner, Loafer oder Tramp kann genau in derselben Rowdy-Pose stehen wie die tönerne Figur da unten, von der man uns sagte, daß sie Winnetou bedeute! Bitte, liebes Herzle, zeige ihr einmal einen anderen Winnetou, nämlich den unseren!“
Meine Frau ging, den betreffenden Koffer zu öffnen, und brachte die photographischen Abzüge, welche sie daheim gemacht hatte. Als ich zu ihr trat, um den betreffenden herauszusuchen, benutzte sie diese Gelegenheit, mir leise zuzuraunen:
„Sei doch gut! Nicht so grob! Sie weint ja beinahe! Sie ist doch nicht schuld daran!“
„Mehr als du denkst!“ antwortete ich ebenso leise. „Sie versteht nichts von Kunst und vergöttert ihre Enkel. Laß mich nur!“
Ich habe schon früher gesagt, daß ich den Sascha Schneiderschen , zum Himmel strebenden Winnetou mitgebracht hatte. Wir besaßen mehrere Abzüge davon. Ich nahm einen und befestigte ihn mit vier Nadeln an der Wand; dann brannte ich die Lampe an, denn es war inzwischen fast dunkel geworden. Das Licht fiel von beiden Seiten auf das Bild. Das Kreuz, welchem Winnetou entgegenschwebt , begann zu leuchten.
„Das ist unser Winnetou“, sagte ich, „nicht der eurige. Schau dir ihn an!“
Sie hob die Augen und sagte nichts. Sie trat näher hinzu und sagte nichts. Sie trat wieder zurück, Schritt um Schritt, und sagte nichts. Dann, an der gegenüberliegenden Wand angekommen, ließ sie sich in sitzender Stellung nieder, hielt ihre Augen unablässig auf das Bild gerichtet und sagte noch immer nichts. Aber in ihrem Gesicht glänzte der Schein einer höheren Freude. Es war etwas seelisch Schönes und seelisch Glückliches über sie gekommen, was sie nicht verstand und nicht zu deuten wußte. Da bewegte sich der Türvorhang neben ihr, und es trat jemand herein, dessen Kommen wir am allerwenigsten erwartet hatten, nämlich Tatellah-Satah. Er hatte mir vollständige Freiheit gewährt und sich vorgenommen, mich so wenig
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