04 - Winnetou IV
wie möglich zu stören; nach der heutigen Entdeckung aber und nach dem Bericht, den Intschu-inta ihm höchstwahrscheinlich erstattet hatte, war es ihm ein Bedürfnis gewesen, mich aufzusuchen, um Näheres zu erfahren. Er sah das Bild, blieb unter der Tür stehen und beobachtete es mit immer größer werdenden Augen. Dann trat er herein in das Zimmer, schritt langsam näher und näher, wich wieder zurück, tat einige Schritte vorwärts, während in seinem Gesicht die Gedanken kamen und gingen. Seine Augen leuchteten mehr und mehr. Es kam ein frohes Erkennen über ihn.
„Uff, uff!“ rief er endlich aus. „Das ist Winnetou? Der wirkliche Winnetou? Also unser Winnetou?“
Ich nickte.
„Aber nicht sein Körper, sondern seine Seele!“ fuhr er fort. „Sie schwebt zum Himmel! Über ihm das Kreuz! Ähnlich dem Passiflorenkreuz , welches er in meinem Haus und in meinem Herzen pflanzte! Seinem Haar entfällt die Häuptlingsfeder ! Das letzte Irdische, was noch an ihm haftete! Nun ist er erlöst! Nun ist er frei! Wie schön, wie schön!“
Er stand wie verzückt. Seine Lippen bewegten sich, doch hörte man die Worte nicht, die ihnen entschlüpfen wollten. Erst nach einiger Zeit sprach er laut: „Das ist er; ja, das ist er! Könnten wir ihn unsern Völkern doch so zeigen, wie wir hier ihn sehen! Könnten wir ihm doch ein Denkmal setzen, welches ihn genauso gibt, wie ich ihn in diesem Augenblick empfinde – als Seele!“
„Das können wir!“ antwortete ich.
„Wirklich?“ fragte er.
„Ja! Das können wir, und das werden wir!“
„Unmöglich!“
„Warum unmöglich?“
„Ihn als Seele zu zeigen? In Erz, in Marmor oder in sonstigem Gestein?“
„Nicht in Erz und nicht in Stein! Und doch höher und herrlicher ragend als die steinerne Gestalt, welche sich auf dem Mount Winnetou erheben soll!“
„Ich verstehe dich nicht!“
„Du wirst mich verstehen. Vielleicht schon morgen. Komm! Setz dich! Ich habe dir noch mehr zu zeigen.“
Er folgte dieser Aufforderung. Da erhob Kolma Putschi sich von ihrem Platz. Sie hatte ihr erstauntes Schweigen bis jetzt beibehalten; nun aber sagte sie, sich an mich wendend:
„Old Shatterhand hat gesiegt wie immer. Doch nicht allein. Sondern mit seinem Freund und Bruder Winnetou.“
Bei diesen Worten deutete sie auf das Bild und fuhr dann fort:
„Freilich, einen solchen Winnetou bringt weder Young Surehand noch Apanatschka fertig! Ich gehe jetzt. Ich werde deine Einladung zum Mittagessen überbringen, und ich hoffe, sie stellen sich ein, die du zu sehen wünschest. Würdest du ihnen deinen Winnetou zeigen?“
„Wenn sie ihn zu sehen wünschen, ja.“
„So lebt wohl! Ich wußte bisher nicht, daß es Bilder gibt, die mächtiger und eindringlicher predigen, als Worte predigen können!“
Sie ging.
Ja, sie hatte bisher nicht geahnt, welche eine Sprache die wahre Kunst besitzt. Ich aber wußte es. Und darum hatte ich ihr dieses Bild gezeigt, für dessen Stimme in ihrem Herzen die tiefste Resonanz zu hoffen war. Sie hatte ihn ja persönlich gekannt, den es darstellte. Sie hatte ihn verehrt und geliebt. Und sie hatte es ihm zu verdanken, daß ihr einst so freudeloses Leben eine so unerwartete Wendung zum Glück genommen hatte. Da konnte sein Bild ja ganz unmöglich ohne Wirkung auf sie sein. Und diese Wirkung nahm sie jetzt mit sich heim. Meine Strenge war berechnet, und ich erwartete, daß diese Rechnung stimmen werde. Als sie sich entfernt hatte, begann Tatellah-Satah:
„Ich komme, um dich über deine Höhlenforschung zu hören und dir sodann die Bibliothek zu zeigen, aus welcher die Karte gestohlen worden ist. Doch sprechen wir vorher erst über dieses Bild. Hast du vielleicht nur dieses eine? Dann darf ich den Wunsch nicht aussprechen, den ich hege?“
„Ich besitze mehrere.“
„So bitte ich dich, mir eines davon zu schenken!“
„Nimm dieses hier! Es ist dein!“
„Ich danke dir! Ist es nicht sonderbar, daß Old Shatterhand immer der Gebende ist, so oft er zu seinen roten Brüdern kommt? Was er von ihnen bekommt, ist wenig, denn sie sind arm. Was aber er gibt, das sind innere Reichtümer, für die es keine äußere Bezahlung gibt. Wenn ich in dieser Weise von Old Shatterhand spreche, so meine ich nicht ihn allein, sondern das Bleichgesicht überhaupt, dem wir von jetzt an nur noch Gutes zu verdanken haben werden. Glaubst du, mit diesem Bild die Gegner zu besiegen?“
„Nicht mit Winnetous Bild, sondern durch Winnetou selbst. Das Bild soll nur der
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