04 - Winnetou IV
fort:
„Ihr und eure Söhne seid für den steinernen Winnetou. Ob das richtig ist oder falsch, will ich nicht allein bestimmen. Ihr selbst sollt auch mit entscheiden. Ihr laßt euren Winnetou am Wasserfall stehen, damit wir ihn sehen und bewundern mögen. Wohlan, so bitten wir euch, dasselbe tun zu dürfen. Er soll nicht nur vor euern Augen, sondern in euch selbst entstehen. Ihr sollt ihn nicht nur sehen, sondern auch fühlen und empfinden. Dann sollt ihr sie beide vergleichen, den eurigen und den unsrigen. Und ist dies geschehen, so werden wir wissen, für welchen wir uns entscheiden. Wer stimmt mir bei?“
„Howgh!“ antwortete ich.
„Howgh!“ fielen alle diejenigen ein, die bisher gleicher Meinung mit mir gewesen waren.
„Howgh!“ riefen sogar auch Old Surehand und Apanatschka, teils hingerissen von der Erscheinung und der Beredsamkeit des Alten, teils aber auch, weil sie ihn nicht ganz verstanden und darum ihr Projekt noch immer als siegreich betrachteten. Hierauf sprach Tatellah-Satah weiter:
„Ich lade euch alle ein, zu mir zu kommen, heute abend, sobald es dunkel geworden ist. Bringt auch Young Surehand und Young Apanatschka mit, die beiden Künstler, die nur ihren steinernen Winnetou kennen, den andern, den lebendigen, aber nicht. Sie sollen die wahre Kunst kennenlernen, welche nicht darin besteht, das Irdische abzukonterfeien, sondern das Himmlische im Irdischen nachzuweisen. Sie sollen heute abend bei mir den sprechen hören, den sie da oben auf dem Berg versteinern wollen. Sie sollen erfahren, was er von ihnen verlangt. Und haben sie das von ihm gehört, so wollen wir sie fragen, ob sie noch darauf bestehen, uns ein totes Bild zu geben, anstatt Leben, Fleisch und Blut. Also, ich erwarte euch alle, alle. Ich habe gesprochen!“
Er winkte mit der Hand, drehte sich um und verschwand aus dem Zimmer. Niemand sprach ein Wort, so tief war der Eindruck, den er hervorgebracht hatte. Da erschien Intschu-inta und meldete, daß das Mahl bereitet sei. Das brachte wieder Bewegung in die Versammlung, welche sofort aufbrach, dem Ruf der roten und der weißen Köchin zu folgen.
Das gute Herzle überraschte mich durch zweierlei. Erstens hatte sie ihr indianisches Frauengewand angelegt, aus seidenweichem Leder gefertigt und mit uralten Perlen und Fransen verziert. Und zweitens war das von ihr und Aschta getroffene Arrangement ein so frappantes und gelungenes, wie ich es nicht hatte erwarten können. Es waren, ohne daß ich es gemerkt hatte, sehr viele Hände tätig gewesen, den Raum zu einem indianisch festlichen zu gestalten, und das Mahl war geradezu raffiniert bereitet und zusammengestellt, wenn es auch dabei Genüsse gab, über die ein englischer oder französischer Koch die Hände über den Kopf zusammengeschlagen hätte. Aber grad das, was ich für am gewagtesten hielt, daß aßen die Häuptlinge am liebsten. Wenn mir angst über ein neues Gericht wurde, über dessen Unbefangenheit ich sehr im Zweifel war, da griffen sie am schnellsten zu. Sie fanden alles wunderbar. Was vorgelegt wurde, verschwand, als sei es nie dagewesen. Aber es wurde ergänzt. Es kam immer mehr und mehr. Es wollte gar kein Ende nehmen, bis schließlich doch der eine und der andere das Messer beiseite legte und ernstlich erklärte, daß es ihm am Atem fehle. Der rote Mann ißt gern und ißt viel. Und grad da, wo alles aufhören wollte, wurden noch ganze Berge von Pfannkuchen gebracht, mit allen möglichen und unmöglichen Dingen gefüllt. Das kam von diesem nichtsnutzigen Wesen, dem Herzle, dem es ganz gleichgültig ist, ob man an zu viel Pfannkuchen stirbt oder nicht, wenn sie einem nur gut bekommen. Und sie wurden alle! Und sie bekamen! Dann aber saßen die würdigen Häuptlinge sehr still und sehr satt nebeneinander, und es war beiden, sowohl der roten als auch der weißen Köchin sehr deutlich anzusehen, daß sie sich in diesem Augenblick als Siegerinnen fühlten; wir aber waren die Geschlagenen.
Natürlich war die Unterhaltung während des Essens eine außerordentlich lebhafte gewesen. Kein Wunder, wenn man bedenkt, aus was für Personen und Charakteren sich die Gesellschaft zusammensetzte. Ich saß, wie bereits erwähnt, zwischen Old Surehand und Apanatschka. Was während der Zeit, in der wir einander nicht gesehen hatten, mit uns geschehen war, das hatten wir uns sehr bald in großen, allgemeinen Zügen mitgeteilt. Auch über die Frage, ob ich in Old Surehands Landhaus vorgesprochen habe und wie ich zu seinen Pferden und
Weitere Kostenlose Bücher