04 - Winnetou IV
Lichtflammen verunreinigt werde, stand die in das Freie führende Treppentür offen. Für den Vorleser, der war ich, gab es einen erhöhten Sitz, zu dessen Seiten, um mir das nötige Licht zu geben, die Kerzen vervielfacht waren. Als wir eintraten, standen die Anwesenden alle auf. Daß wir unsere Frauen mitbrachten, schien ihnen ganz verständlich zu sein. Tatellah-Satah forderte sie durch einen Wink auf, ihre Sitze wieder einzunehmen. Er selbst blieb stehen, um einige Worte des Grußes und der Einleitung zu sprechen. Er erklärte den Zweck unserer heutigen Zusammenkunft und Vorlesung und forderte die Versammelten auf, ihre Augen nach innen zu richten, um die Ankunft dessen, dem dieser Abend gewidmet war, ja nicht zu übersehen. Dann begann die Vorlesung. Die ersten Zeilen lauteten:
„Ich bin Winnetou. Man nennt mich den Häuptling der Apatschen. Ich schreibe für mein Volk. Und ich schreibe für alle, die da Menschen sind auf Erden. Manitou, der Große, der Allgütige, breite deine Hände aus über dies mein Volk und über alle, die es ehrlich mit ihm meinen!“
Als diese Worte erklangen, ging eine tiefe, fast möchte ich sagen, eine heilige Bewegung durch die Versammlung.
„Winnetou!“
„Winnetou!“
„Winnetou!“ hauchte es rundum.
Ich las weiter. Ein voller, inhaltsreicher Lapidarstil war meinem unvergleichlichen roten Bruder eigen gewesen, wie stets im Sprechen, so auch hier im Schreiben. Das wuchtete. Das hob empor! Und das riß hin! Den Inhalt dessen, was ich vorlas, wird man Kennenlernen, wenn das Testament im Druck erscheint. Es entstand die Seele des Knaben Winnetou, die Seele der einstmals jungen, roten Rasse. Sie entwickelte sich; sie wuchs. Die Schicksale Winnetous waren die Schicksale seiner Nation. In dem ersten Heft, aus dem ich vorlas, beschrieb er seine Kindheit, in dem zweiten sein Knabenalter. Ich saß der offenen Tür grad gegenüber. Als ich zwischen den Zeilen einmal aufblickte, sah ich eine Gestalt, welche draußen vor der Tür, im Freien, erschien. Sie kam nicht herein. Sie setzte sich draußen nieder, um zuzuhören. Die Gestalt war jung. Ich konnte ihr Gesicht nicht erkennen. Das Haar hing ihr lang und voll über den Rücken herab. War es Winnetou? Hatte er sich aus jener anderen Welt herniedergelassen, um dabei zu sein, wenn sein Vermächtnis laut zu sprechen begann?
Die Zuhörer waren bis tief in ihr Innerstes gefesselt. Ihre Augen hingen an meinem Mund. Sehr häufig erklang ein leises oder auch ein lauteres „Uff!“ Die Spannung war groß. Sie ließ nicht nach, sondern sie wuchs. Die sitzende Gestalt draußen vor der Tür regte sich nicht, so gefangen war sie von dem, was sie hörte. Ich las bis Mitternacht; da wollte ich aufhören; aber kein einziger der Anwesenden war damit einverstanden.
„Weiter, weiter!“ bat man von allen Seiten.
Wakon erbot sich, an meiner Stelle fortzufahren. Ich willigte ein. Er las und las, noch stundenlang, bis draußen der Morgen tagte und man sehen konnte, daß der vor der Tür Sitzende und so aufmerksam Zuhörende der ‚Junge Adler‘ war. Da stand ich auf und bat, Schluß zu machen; heute abend sei bessere Zeit als jetzt, in der Vorlesung fortzufahren. Nur in der Hoffnung auf dieses letztere war man einverstanden. Man erhob sich von den Sitzen. Kein einziger sprach ein Wort. Es erschien wie eine Entweihung, jetzt anderes zu sagen. Da deutete Tatellah-Satah hinaus nach dem östlichen Horizont und sprach:
„Meine Brüder mögen sehen, daß der Tag im Erscheinen ist, der junge Tag, den die Sprache der Menschen den Morgen nennt. Zur selben Zeit ist in mir und, wenn Manitou es will, in ihnen auch ein Tag erschienen, ein neuer, junger, schöner Tag, schöner als alle die Tage, die vergangen sind. Ich meine den neuen, großen herrlichen Tag der roten Nation. Er wurde in diesen unserm Winnetou geweihten Stunden in euch geboren. Fühlt ihr ihn? Und fühlt ihr tief in euch die Seele dessen, um dessen Testament wir uns versammelten, zu erfüllen, was er uns in ihm erläutert und verheißen hat! Fühlt ihr sein Bild, welches in euch wachsen will?“
„Es ist da!“ antwortete Athabaska.
„Ja, es ist da!“ rief Aschta, die Begeisterte.
„Es ist da; es ist da“, stimmten auch die anderen bei.
Sogar Old Surehand und Apanatschka bestätigten es. Nur ihre Söhne sagten noch nichts. Auch sie fühlten die tiefe Wirkung des Manuskriptes. Aber sie wußten, daß ihr Plan um so unausführbarer wurde, je mehr diese Wirkung sich vertiefte. Darum
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