04 - Winnetou IV
Überzeugung wegen, daß nicht etwa auch heut wieder etwas liegengelassen werde. Hariman Enters erbot sich sofort, ihm dabei zu helfen. Sie gingen noch volle zwei Fuß tiefer, fanden aber nichts und schütteten dann die Bodenöffnung vollständig wieder zu. Inzwischen untersuchte ich mit meiner Frau den Inhalt sämtlicher fünf Gefäße.
Es waren lauter zusammengebundene Hefte, Manuskripte, geschrieben von Winnetous eigener, mir wohlbekannter Hand. Man kann sich wohl denken, welchen Eindruck diese kalligraphisch nicht schönen, aber außerordentlich charakteristischen Schriftzüge auf mich machten. Die Buchstaben hatten peinlich genau dieselbe Lage und Länge. Die Schrift war klar und harmonisch, wie die Seele dessen, von dessen Hand sie stammte. Er hatte eigentlich nicht geschrieben, sondern gezeichnet und gemalt. Kein einziger Fleck, keine Spur irgendeiner Unsauberkeit war da zu sehen. So war er ja immer, und so war er in allem gewesen! Und das waren nicht etwa nur zwanzig, dreißig, fünfzig Seiten, sondern viele, viele hunderte! Wo hatte er sie geschrieben? Auf den Umschlägen einiger Hefte war es zu sehen. Da stand: ‚Geschrieben am Nugget-tsil‘ – ‚Geschrieben am Grabe meines Vaters‘ – ‚Geschrieben am Grabe Klekih-petras‘ – ‚Geschrieben in Old Shatterhands Wohnung am Rio Pecos‘ – ‚Geschrieben bei Tatellah-Satah‘ – ‚Geschrieben für meine roten Brüder‘ – ‚Geschrieben für meine weißen Brüder‘ – ‚Geschrieben für alle Menschen, die es gibt‘. Viele der Hefte aber waren ohne solch eine Überschrift. Die Sprache war englisch. Wo ihr der richtige, individuelle Ausdruck fehlte, traten die bezeichnenderen indianischen Worte an ihre Stelle. Er hatte von mir so manchen deutschen Ausdruck gehört und im Gedächtnis festgehalten. Nun war es so rührend zu sehen, wie sehr und wie gern er sich in diesen Blättern befleißigt hatte, an hierzu geeigneten Orten diese Ausdrücke in Anwendung zu bringen.
Am Schluß des letzten Heftes fand ich ein vollständiges Inhaltsverzeichnis und einen an mich gerichteten Brief. Das Inhaltsverzeichnis werde ich später veröffentlichen. Der Brief lautete folgendermaßen:
„Mein lieber, lieber, guter Bruder!
Ich bete zum großen, allgütigen Manitou, daß Du kommst, um Dir diese Bücher zu holen. Und wenn Du sie beim ersten Male verfehlst, weil Du nicht tief genug gräbst, so ist es noch nicht an der Zeit, daß sie in Deine Hände kommen. Dann werde ich nicht eher aufhören im Gebete, bis Du endlich doch noch kommst und sie findest. Denn sie sind nur für Dich, für keinen anderen.
Ich habe dieses mein Vermächtnis nicht bei Tatellah-Satah niedergelegt, weil er Dich nicht liebt. Aber auch hier sind seine Gründe edel, wie immer. Und ich habe es auch keinem andern anvertraut, weil mein Vertrauen zum allmächtigen und allweisen Vater der Welten größer ist als zu den Menschen. Ich grabe diese Bücher tief in die Erde, denn sie sind wichtig. Höher oben liegt ein zweites Testament, um dieses hier zu verbergen und zu beschützen. Ich werde Dir nur von diesem oberen sagen, damit das untere liegen bleibe, bis seine Zeit gekommen ist. Und ich habe Tatellah-Satah mitgeteilt, daß hier zwei Vermächtnisse für Dich liegen, damit sie, wenn Du ja nicht kommen solltest, trotzdem nicht verlorengehen.
Und nun öffne mir Dein Herz und Deinen Geist, und vernimm, was ich, der Verstorbene und doch Lebende, Dir sage!
Ich bin Dein Bruder. Ich will es sein und bleiben. Auch dann, wenn die Trauerkunde durch die Stämme der Apatschen geht: ‚Winnetou, unser Häuptling, ist tot!‘ Du hast mich gelehrt, daß der Tod die größte aller Erdenlügen sei. Ich möchte Dir beweisen, daß dieses köstliche Geschenk, welches Du mir brachtest, die Wahrheit enthält. Ich will, wenn man von mir sagt, daß ich gestorben sei, die Hände ebenso über Dich breiten, wie ich sie über Dich breitete, als ich noch lebte. Ich will Dich schützen, mein Freund, mein Bruder, mein lieber, lieber Bruder.
Der große, gute Manitou führte uns zusammen. Wir sind nicht zwei, sondern einer. Wir werden es bleiben. Es gibt keine Macht auf Erden, die stark genug ist, dies zu verhindern. Auch das Grab gähnt nicht zwischen uns. Ich werde seine Tiefe überspringen, indem ich in meinem Vermächtnis zu Dir komme und für immer bei Dir bleibe.
Du bist, seit ich Dich kenne, mein Schutzengel gewesen, und ich war in gleicher Weise der Deine. Du standest mir höher, als jeder andere, den ich
Weitere Kostenlose Bücher