04 - Winnetou IV
was du ihm und seinem Bruder versprochen hast – nämlich die Bärentatzen. Ich hoffe, daß mir das mit Pappermanns Hilfe gelingen wird.“
Der Gedanke, nach Sebulon auszuschauen, war mir nicht nur wegen meiner eigenen Sicherheit gekommen. Noch viel mehr als das drängte mich das Mitleid, ihn jetzt nicht für längere Zeit aus den Augen zu lassen. Es galt, auch ihn zu retten, nachdem sein Bruder so ziemlich als gerettet gelten konnte. Ich ging ihm nach, indem ich seinen Spuren folgte. Sie führten in die Tiefe des Waldes, nicht in gerader Linie, wie die Stapfen eines Menschen, welcher weiß, wohin er will, sondern bald nach rechts und bald nach links, bald vorwärts und bald wieder zurück, als ob er in der Irre sei und nicht wisse, wo aus oder ein. Zuweilen war er Stehengeblieben, aber nicht an einer und derselben Stelle, sondern sich nach allen Seiten drehend und wendend, als ob er rundum von unsichtbaren Wesen bedroht worden sei, gegen die er sich hatte wehren müssen. Das waren seine Gedanken.
Durch diese Beobachtung aufgehalten, kam ich nur langsam vorwärts. Endlich aber hörte ich ihn, noch ehe ich ihn erblickte. Er sprach laut, sehr laut. Ich folgte der Richtung, die mir der Schall verriet. Er stand unter einer hohen Buche, an ihren Stamm gelehnt. Es gab in der Nähe ein dichtes Unterholz, hinter dem ich Deckung fand. Er sprach, als ob er greifbare Gestalten vor sich habe. Er gestikulierte: er nickte ihnen zu. Ich hörte folgendes:
„Ihr alle seid schon tot, ihr alle! Nur wir zwei sind noch übrig! Müssen auch wir noch fort? Hariman will sterben; ich aber will leben. Ich will den Willen des Vaters tun, damit er nicht auch noch mich, den letzten, ermordet! Ich will ihm diesen Old Shatterhand an das Messer liefern, ich will, ich will! Ich will diesen seinen größten Feind vernichten und verderben, damit ich selbst am Leben bleibe. Aber kann ich – kann ich – kann ich –?“
Er bewegte bei dieser dreimaligen Frage den Kopf so, als ob er einen Halbkreis von Zuhörern vor sich habe. Er lauschte, als ob ihm von dorther geantwortet werde. Dann fuhr er fort:
„Diese Frau, diese Frau ist schuld! Diese Frau mit den blauen Augen und mit der Herzensgüte im Gesicht! Die stellt sich mir in den Weg!“
Er legte die beiden hohlen Hände wie ein Schallrohr an den Mund und erklärte geheimnisvoll:
„Das sind die blauen Augen unserer Mutter. Diese lieben, guten, blauen Augen, die so unzählbar oft weinten, bis sie vor Herzeleid brachen und sich schlossen! Habt ihr diese Ähnlichkeit auch bemerkt? Und das ist das Wohlwollen und die Güte unserer Mutter, genau, genau! Wie das lächelt! Wie das bittet! Wie das verzeiht! – Sollen diese Augen sich in Tränen ergießen, meinetwegen? Soll soviel Güte vernichtet werden? In Haß, in Rache verwandelt? Kann ich das? Darf ich das? Eines Schurken wegen? Eines Schurken – Schurken – Schurken??“
Er neigte den Kopf zur Seite, als ob er auf etwas lauschte, was ihm zugerufen wurde, machte dann eine Bewegung zornigen Widerspruches und antwortete:
„Nein! Er hat mich betrogen, der Alte! Betrogen, betrogen, betrogen! Es war kein Gold; es waren nur Blätter, nur Blätter! Will er mich mit Kiktahan Schonka etwa ähnlich betrügen? Er hat, als er lebte, alle Welt betrogen. Nun er tot ist, kann er nur uns noch betrügen. Aber betrogen muß sein, betrogen, betrogen! Soll ich mir das gefallen lassen? Wahrlich, ich habe große Lust, ihm das zurückzugeben, ihn so zu betrügen, wie er mich betrügt, ihn mit diesem Old Shatterhand zu betrügen! Vielleicht tue ich es, vielleicht! Sogar wahrscheinlich! Dieser blauen Augen wegen! Und dieses lieben, gütigen Gesichtes wegen! Ich will einmal –“
Er hielt in seiner Rede inne. Er wurde unterbrochen. Sein Bruder erschien jenseits der Buche und rief, indem er sich ihm näherte:
„Still, still, Unvorsichtiger! Dein einsames Schreien und Brüllen wird uns noch beide verderben!“
„Sie waren alle da, alle!“ entschuldigte sich Hariman.
„Unsinn! Niemand ist da, niemand! Aber einer kann kommen, jeden Augenblick. Und wenn der hört, was du dann den Bäumen erzählst, ist alles entdeckt, was du sonst so sorgsam verschweigst!“
„Wen meinst du?“
„Old Shatterhand. Er ging in den Wald, und zwar genau in der Richtung, in welcher du verschwandest. Ich kenne den Dämon, der dich zwingt, so laute Reden zu halten. Darum bin ich schnell hinter dir her, um dich zu warnen. Aber ich wußte nicht, wo du warst. Es dauerte lange,
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