040 - Die Tochter der Hexe
Ich hatte nicht etwa Angst, aber da war so eine unangenehme Kälte, die mit klammen Fingern nach mir griff. Das Mädchen schwieg. Wenn auch ihr nicht ganz wohl zumute war, so gab sie es nicht zu erkennen.
Die Tür schwang auf, und wir stießen einander, als wir gleichzeitig einzutreten versuchten. Ich machte Licht. Was hatte ich eigentlich erwartet? Jedenfalls überkam mich das Gefühl der Enttäuschung, daß nach all dem Unbehaglichen gar nichts Ungewöhnliches unserer harrte. Ob Wilma die Wohnung durchsucht hatte, war nicht zu erkennen. Mir schien nichts verändert. Resigniert kam ich in das Wohnzimmer, wo Gisela sich zuletzt umgesehen hatte. Sie sah mir bleich entgegen. In ihrer heftig zitternden Hand hielt sie mir einen Zettel entgegen. Sie wollte etwas sagen, aber ihre Stimme schien zu versagen.
Verwundert nahm ich ihr den Zettel aus der Hand. In großen, rasch hingekritzelten Buchstaben stand darauf:
GIS, ICH WEISS, DASS DU HEUTE ABEND HIER SEIN WIRST. HAB KEINE ANGST. ICH MUSS MIT DIR REDEN. MORGEN ABEND UM SIEBEN IN DEM BUCHLADEN. SEI PÜNKTLICH. MIR BLEIBT NICHT MEHR VIEL ZEIT!
W
„Erkennen Sie die Schrift wieder?“ fragte ich sie.
Sie nickte stumm.
„Kein Zweifel?’’
„Nein“, sagte sie am ganzen Leibe zitternd.
„Dann gibt es nur eine Erklärung“, stellte ich fest. „Ihre Schwester lebt. Sie hat die ganze Zeit über gelebt, ohne daß Sie davon wußten!“
„Aber warum sollte sie das vor uns geheim halten?“
„Keine Ahnung. Vielleicht wird sie es uns sagen. Ihr Auftauchen hängt sicher mit dem Verschwinden Ihrer Mutter zusammen. Und wie mir scheint, braucht sie nun Ihre Hilfe.“
Meine Worte schienen sie zu beruhigen.
„Morgen“, fuhr ich fort, „wissen wir mehr.“
„Sie kommen mit?“ fragte sie.
Ich nickte. „Ich möchte Sie darum bitten“, sagte ich.
Sie lächelte ein wenig verlegen. „Ich kenne Sie kaum, aber diese Bitte werde ich Ihnen nicht abschlagen. Ich fürchte, es wird Sie einige Überredungskunst kosten, mich dorthin zu bringen.“
„Ich hoffe, es wird weniger schwierig sein, Sie zum Essen einzuladen“, erwiderte ich. „Wir könnten dabei in Ruhe unsere nächsten Schritte überlegen.“
Überraschend stimmte sie zu. Ich hatte das Gefühl, daß sie alles im Augenblick ertragen konnte, nur keine Einsamkeit. Wir fuhren in mein Stammlokal im neunten Bezirk. Dem Hausmeister gegenüber, der uns beim Weggehen neugierig entgegenkam, erwähnten wir nichts von Wilmas Nachricht.
Trotz der Spannung und Furcht, die das Mädchen in Bann schlügen, gelang es mir nach und nach, sie für so wichtige Dinge wie mich zu interessieren. Das förderte seltsamerweise auch ihren Appetit. Hatte sie beim Verlassen der Wohnung beteuert, keinen Bissen hinabwürgen zu können, so verdrückte sie nun einen umfangreichen Bauernschmaus mit derselben Leichtigkeit, als handelte es sich nur um einen kleinen Imbiß. Damit kehrte aber auch einige Farbe in ihr Gesicht zurück.
Wir blieben bis kurz vor Mitternacht – eigentlich unbeabsichtigt. Aber als ich sie einmal aus ihrer Reserve gelockt hatte, taute sie richtig auf und erzählte mir eine Menge über sich und das Leben in Bernheim.
Sie schien keine übermäßig fröhliche Kindheit gehabt zu haben, wofür in der Hauptsache die bedrückende Atmosphäre des einsamen Moorortes verantwortlich war. Es gab wenig Abwechslung. Irgendwie stand die Zeit still. Es gab Tag und Nacht, und es gab Jahreszeiten, aber wenn man genau hinsah, bemerkte man, daß sie sich wiederholten. Sie sagte es verbittert, und mir war klar, was sie eigentlich meinte: es gibt nichts Trostloseres als eine einsame Kindheit in Abgeschlossenheit und unter den Schatten einer bedrückenden Umwelt. Das Moor hatte für sie immer etwas Lauerndes gehabt, das auf die Menschen dort abgefärbt hatte. Und es barg eine Menge Geheimnisse, die nicht offen ausgesprochen wurden, die die Kinder von ihren Eltern erfuhren und verfluchten und mit diesem Fluch noch verschlossener lebten. Es hatte etwas zu tun mit den nächtlichen Fahrten über das Moor, an denen nur Eingeweihte teilnehmen durften.
Auch ihre Mutter hatte daran teilgenommen bis ein Jahr vor Wilmas Tod. Aber die beiden Mädchen hatten nie erfahren, was jenseits des Moores geschah, wo die alte Elvira ihr Haus hatte – diese alte Hexe mit den süßen Worten und den stechenden Augen.
Die Mutter hatte also mit der Tradition gebrochen und ihren beiden Töchtern die alten Geheimnisse nicht weitergegeben. Lag hier
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