040 - Die Tochter der Hexe
Der Buchladen ist seit einigen Tagen geschlossen. Da dachte ich, Sie könnten mir vielleicht Auskunft über den Verbleib Ihrer Mutter geben. Ich hatte einige Bücher bestellt, und die Lieferung sollte längst hier sein.“
„Seit wann ist der Laden geschlossen?“ fragte sie. Die Angst in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
„Seit vorgestern“, erklärte ich wahrheitsgemäß.
„Waren Sie auch in ihrer Wohnung, in der Kaiserstraße?“
Einen Moment zögerte ich. Dann sagte ich: „Nein.“ Es hatte keinen Sinn das Mädchen in Panik zu versetzen, bevor ich nicht dort war.
„Könnten Sie sie aufsuchen“, bat sie. „Wäre das möglich? Und auch, daß Sie mich dann noch einmal anrufen?“
„Natürlich“, erklärte ich.
„Ich habe solche Angst, daß ihr etwas zugestoßen sein könnte. Ich wäre Ihnen sehr, sehr dankbar, wenn Sie das für mich täten.“
„Aber sicher“, beruhigte ich sie. „Kein Problem. Ich habe nur eben noch bis vier an der Uni zu tun. Sagen wir, ich rufe Sie kurz nach fünf an. Ist das recht?“
„Ja, ich werde warten. Ich bin Ihnen sehr dankbar. Herr Fischer.“ „Gut, bis später.“
Ich hängte ein. Bis fünf mußte ich es schaffen, nach Bernheim zu kommen. Hoffentlich war sie geduldig genug, auf meinen Anruf zu warten. Sie hatte Angst um ihre Mutter. Das konnte eine ganz natürliche Reaktion sein. Aber vielleicht hatte sie auch einen bestimmten Grund.
Ich fuhr sofort nach den Übungen los. Man konnte nicht allzu schnell fahren auf der schmalen Straße. Es wurde viertel sechs, als ich Bernheim erreichte.
Es war ein kleiner, unscheinbarer Ort, der sicherlich nicht mehr als tausend Einwohner hatte. Es lag noch gute zehn Kilometer von der Landstraße entfernt in einem moorigen Tal. Ein wenig hangaufwärts hockten die Häuser, als lauerten sie darauf, auf jemanden herabzuspringen, der unachtsam die Straße entlang kam. Ich fragte mich, wie man hier wohnen konnte, und wer wohl die verrückte Idee gehabt hatte, sich hier anzusiedeln. Vielleicht war das Land vor ein paar Jahrhunderten anders gewesen, aber jetzt schien für die Bewohner nicht viel mehr übrig, als der trostlose Anblick auf die kahlen Hänge oder den Sumpf am Talgrund.
Ich brauchte eine weitere Viertelstunde, um das Haus der Kurtz’ zu finden. Ich war einigermaßen froh, als mir das Mädchen öffnete, und ich tatsächlich jemanden Lebenden hier fand.
Sie war noch hübscher als auf dem Foto. Ihr schmales Gesicht war ernst und verschlossen, und ich versuchte mir vorzustellen, wie sie aussehen mochte, wenn sie lächelte.
Sie sah mich erschrocken an, als ich mich vorstellte. Sie bat mich ins Haus, und ich berichtete ihr, daß ihre Mutter nicht aufzufinden sei und daß der Hausherr bereits die Polizei verständigt habe. Die Sache mit der brennenden Frau und das Auftauchen ihrer Schwester verschwieg ich. Ich wollte erst herausfinden, ob sie etwas Ungewöhnliches wußte.
„Drei Tage.”, murmelte sie bleich.
„Haben Sie noch Verwandte irgendwo, die sie besucht haben könnte?“
Sie schüttelte verneinend den Kopf.
„Was ist mit Ihrer Schwester? Ist sie wirklich tot?“
„Ja, sie starb vor vier Jahren.“
„Woran? Oder ist es zu unverschämt, wenn ich Sie danach frage?“
„Nein“, antwortete sie zögernd. „Sie waren so nett, mir zu helfen. Ich bin Ihnen sicher ein paar Erklärungen schuldig. Sie … sie kam im Moor um. Dort draußen.“ Sie deutete aus dem Fenster. „Irgend etwas trieb sie da hinaus, in die Dunkelheit, in die sich keiner aus dem Ort hinauswagen würde. Wir hörten sie schreien, aber wir fanden nicht mehr viel von ihr. Ihre Schuhe und ihren Schal.“ Sie brach ab.
„Es war ein schwerer Schlag für ihre Mutter?“ fragte ich.
„Ja“, flüsterte das Mädchen. „Sie sprach nie darüber, aber es war deutlich zu sehen, daß sie sich die Schuld an Wilmas Tod gab. Sie hatte Angst vor irgend etwas. Ich fragte sie oft danach, aber sie schwieg beharrlich. In diesen vier Jahren ist die Furcht nicht aus diesem Haus gegangen. Selbst die Nachbarn mieden uns nach Wilmas Tod. Ich spürte es weniger, denn ich war die meiste Zeit in Rosenheim, wo ich zur Schule ging. Seit Mutter fort ist, ist es ein wenig besser geworden. Die Leute sind freundlicher geworden. Die alte Dame, die in dem großen Haus jenseits des Moores wohnt, hat mich sogar schon ein paarmal eingeladen. Sie ist eine seltsame Frau. Dem Aussehen nach könnte sie eine Spanierin sein. Dem Namen nach – ich weiß nicht.“ Sie zuckte
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