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0400 - Jenseits-Melodie

0400 - Jenseits-Melodie

Titel: 0400 - Jenseits-Melodie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jason Dark
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Klavierspiel dauerte an. Fast kannte der Henker das Stück auswendig. So weich gespielt, beinahe zärtlich und von Dingen erzählend, die Philosophen als metaphysisch bezeichneten, weil sie in anderen Strömungen eingepackt waren.
    Wer spielte auf dem Flügel?
    Der Henker mußte es einfach wissen.
    Er faßte sich ein Herz, legte seine linke Hand auf die Klinke, bevor er die Tür mit einem Ruck aufzog, über die Schwelle schritt, das Schwert anhob und wie angewurzelt stehenblieb.
    Selbst der Henker, der viel in seinem Leben gesehen und erlebt hatte, erstarrte vor Grauen!
    ***
    Die Kerzen des Kronleuchters brannten noch immer. Sie warfen ihr Licht in die Tiefe, wo der Flügel stand. Die Klappe der Klaviatur war wieder hochgeklappt worden und es spielte auch jemand auf dem Flügel. Ein furchtbares Wesen, das es eigentlich nicht geben durfte.
    Die Hand und der Kopf des Hingerichteten waren zusammengewachsen. Sie bildeten jetzt eine Einheit. Der Kopf saß auf dem Gelenk, und die Hand spielte.
    Fünf Finger glitten gelenkig über die Tasten. Sie spielten die Melodie, die die Kaiserin so haßte. Ihr kam sie fremd vor. Zum Barock paßte sie überhaupt nicht.
    Der Henker hatte das Gefühl, allmählich einzufrieren. Er mußte sich bewegen und kam mit steifen Schritten näher. Die Kälte und das Grauen hielten ihn umfangen, sein Schwert kam ihm plötzlich nutzlos vor, und sein Blick pendelte sich auf den Kopf ein.
    Es war der gleiche Schädel.
    Nahtlos war er mit dem Gelenk verbunden, der Mund stand offen, als wollte er jeden Augenblick einen gellenden Schrei nach Hilfe entlassen. Die Augen glänzten fiebrig, das Haar war zerzaust, aber die Hand spielte…
    Selbst für den abgebrühten Henker, der nie von seinen zahlreichen Opfern geträumt hatte, war es ein zur Realität gewordener Alptraum, und er gestand sich gleichzeitig ein, daß ihn das Spiel faszinierte und regelrecht bannte.
    Der Mann bewegte sich nicht.
    Er glaubte, sich in einer fremden Umgebung aufzuhalten und nicht in einem Raum, der ihm bekannt war. Das Zimmer wurde erfüllt von den Melodien, Klängen und Tönen, die dem einsamen Zuhörer und Zuschauer eine andere Welt vorgaukelten.
    Der Henker hatte das Gefühl, keine Wände mehr zu sehen, sondern dünne Gardinen, durch die er in eine andere, geheimnisvolle Welt schauen konnte, wie sie höchstens in Märchen oder Geschichten vorkam, die man sich am Abend erzählte.
    Eine Welt der Sehnsucht, die schon Ähnlichkeit mit dem oft erwähnten Garten Eden besaß.
    Ja, sie war paradiesisch, lockend und mit dem grünen Schimmer der Hoffnung überlagert. Eine herrliche Welt, bewohnt und durchdrungen von märchenhaften Wesen. Feen und Elfen, manche durchsichtig und wie Geistwesen erscheinend. Sie bewegten sich hell und schattengleich inmitten der mystisch und mythisch erscheinenden Umgebung, und sie wurden begleitet von einem feinen Singen, das der Henker trotz des Klavierspiels wahrnahm.
    Er verstand die Welt nicht mehr.
    Als er auf die Fußspitzen schaute und dabei seine Standfestigkeit überprüfen wollte, hatte er das Gefühl, inmitten dieser Welt zu stehen, denn auch der Boden war unter ihm verschwunden. Er bewegte sich oder stand wie auf schillerndem Glas und konnte auch weiterhin den Klängen der Klaviermusik lauschen.
    Die Finger der Hand zuckten vor und zurück. Geschickt übersprangen sie Tasten, berührten die schwarzen ebenso wie die breiteren weißen, glitten zurück, verharrten mal, um einen Ton ausklingen zu lassen, damit sie anschließend in einem wahren Wirbel weiterspielen und ein Fortissimo erreichten, das abrupt endete.
    Gleichzeitig verschwand auch die grüne Welt. Der Henker stand wieder in der völlig normalen Umgebung. Er schaute auf den Flügel und bewegte seine Augen, weil er den beißenden Schmerz verspürte. Den Brauen war es nicht mehr gelungen, den Schweiß zurückzuhalten.
    Sein Blick erfaßte die Klaviatur und die Hand mit dem angewachsenen Kopf darauf.
    Noch immer stand dessen Mund offen, aber kein Schrei drang über die bläulich schimmernden Lippen. Sie wirkten wie mit einer dünnen Eisschicht überzogen, zitterten nicht einmal und blieben starr wie alles andere auch an Hand und Schädel.
    Hatte der Henker noch vor Sekunden in eine märchenhafte Welt des Friedens geblickt, so spürte er die radikale Änderung beinahe körperlich. Er merkte, daß hier etwas lauerte und ihm haushoch überlegen war. Die Stille mit dem Beigeschmack des Unheimlichen kam ihm bedrückend vor, und er sah zu, wie die

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