0400 - Jenseits-Melodie
Hand plötzlich hochschnellte.
Die Finger lösten sich von den Tasten, ein letzter angeschlagener Ton wehte durch das Zimmer, dann war es still.
Aber das Ungetüm befand sich in der Luft. Diese Kopfhand, die spielen und sich auch bewegen konnte. Sie brauchte nicht einmal festen Boden unter den Fingern, sie schwebte auf den Henker zu.
Er stand auf dem Fleck. Seine Gedanken irrten, aber er sah keine Chance zur Flucht.
Jetzt würde er bezahlen müssen. Rache war grausam, er wußte das und stellte sich ihr. Das Schwert in seiner rechten Hand hatte ihn verlassen. Er schaffte es nicht einmal, es in die Höhe zu hieven, so sehr zitterten seine Muskeln.
Und die Hand kam.
Das Gesicht darüber war ihm zugewandt. Die Haut leuchtete weiß-violett. Die kalten, unbeweglichen Augen strahlten das Grauen ab und gleichzeitig ein fürchterliches Versprechen.
Seinen Tod!
Ja, er sollte und würde sterben, durch die Hand und den Kopf, die er auf Befehl der Kaiserin abgehackt hatte.
Das andere Gesicht befand sich in Kopfhöhe. Jede Hautfalte konnte er sehen, auch die Glätte der Stirn, das dunkle Haar, die dichten Brauen, den aufgerissenen Mund, die Reihen der Zähne, aber er hörte keinen Atem.
»Was willst du?« ächzte der Mann mit dem Schwert und schob sich nach vorn.
Die Antwort bekam er auf eine andere Art und Weise, als er es sich vorgestellt hatte.
Fünf Finger griffen zu!
Wie Stahlseile umklammerten sie seine Kehle. Es war ein gekonnter und gleichzeitig grausamer Griff, der dem Henker radikal die Luft abschnürte. Er wurde zur Seite gedreht, und die Hand löste sich nicht von seinem Hals.
Dabei konnte er den Kopf des Mannes genau sehen. Er befand sich nur mehr eine Zeigefingerlänge entfernt. Plötzlich fiel ihm ein, daß der Kopf kleiner geworden war, er hatte sich den Proportionen der Hand sehr genau angepaßt. Das war das Ende seiner Gedankenkette, denn die erste Todesschwäche übermannte ihn bereits.
Seine Knie wurden weich. Noch hielt er sich auf den Beinen, taumelte vor, und der Griff blieb auch weiterhin um seinen Hals. Die Wände, der Kronleuchter, das Klavier, alles drehte sich vor seinen Augen, dabei war er es, der im Kreis wankte.
Zweimal schaffte er dies. Bei der dritten Umdrehung versagten die Beine. Er fiel um und prallte zu Boden.
Die Hand aber blieb.
Sie tötete.
Erst nach über einer Minute löste sich die Klaue vom Hals des Henkers. Die Augen im Kopf bewegten sich zwinkernd, als wollten sie sich selbst für diese Tat loben.
Zum erstenmal schloß sich der Mund.
Der rechte Arm des Toten lag ausgestreckt am Boden. Und die allmählich starr werdenden Finger umklammerten noch immer den Griff des Richtschwerts.
Das zynische Lächeln, das für einen kurzen Moment über die blassen Lippen zuckte, sprach von der Rache, zu dem dieses Horror-Gebilde fähig sein würde. Es bewegte die Finger, glitt gleichzeitig tiefer, so daß es in die Nähe der starren Hand des Toten geriet.
Die blassen Finger konnten nicht nur leicht über die Klaviatur hinweggleiten, sie besaßen auch die Kraft, um das Schwert aus der starren Hand zu lösen.
Dann packten sie zu.
Der Griff schien für die Hand wie gemacht zu sein. Das Gebilde schaffte es auch, die Waffe in die Höhe zu heben. Es führte die Klinge mit einer spielerisch anmutenden Leichtigkeit, wie ein Könner.
Das Gesicht starrte auf den Henker. Ausdruckslos blieben die Augen, doch das Gebilde wußte genau, was es zu tun hatte.
Noch einmal nahm es Maß.
Dann fuhren die Hand, der Kopf und das Schwert nach unten. Es war ein einziger glatter Streich, der den Kopf des Henkers vom Körper trennte.
Wenig später rutschte die Klinge zu Boden. Sie blieb mit der Spitze stecken, und das Gebilde zog sich zurück. Es verschwand einfach, als hätte sich ihm eine andere, geheimnisvolle Welt eröffnet, und es hinterließ eines der großen Rätsel der damaligen Zeit…
***
Man fand den Toten ungefähr eine Stunde später. Nachdem das erste Entsetzen überwunden worden war, bekam die Kaiserin Bescheid. Sie kümmerte sich persönlich um den Mord.
Sie ließ die beiden Leichenträger zu sich kommen, die zitternd und bebend die Fragen beantworteten, die man ihnen stellte. Sogar die Aschenreste des verbrannten Torsos mußten sie zeigen, aber eine Erklärung gab es trotzdem nicht.
Das Rätsel blieb ungelöst.
Die Kaiserin setzte ihre Berater auf den Fall an. Die Männer forschten, doch zu einer Lösung kamen sie nicht. Da entschloß sich die Kaiserin, auch die letzte aller
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