0406 - Finale in der Knochengrube
Wladimir. »Ich werde euch den Text übersetzen. Einverstanden?«
Niemand hatte etwas dagegen.
Wladimir Golenkow nahm die Blätter an sich, schob eine Lampe zurecht, damit er besseres Licht hatte, und nahm sich die erste Seite vor. Dabei blickte ich auf die Seitenzahlen und erlebte eine kleine Enttäuschung.
Nur drei Seiten hatten eine fortlaufende Nummerierung.
Wladimir überflog den Text und runzelte die Stirn.
»Was ist denn?«, fragte ich.
»So schreibt heute keiner mehr.« Der KGB-Mann nickte noch einmal und übersetzte uns die wenigen Seiten aus Rasputins Testament. Und wir hörten gespannt zu.
***
Es gab im Kloster auch ein Krankenzimmer. Der Raum war kahl, man hatte die Wände mit einer grünbraunen Lackfarbe gestrichen. Ein großer Heizkörper sorgte für Wärme und die unter der Decke hängende Lampe für Licht. Das Fenster war aus Sicherheitsgründen vergittert. Manche Kranke hatten nach ihrer Einlieferung schon durchgedreht und zu entkommen versucht. Dem hatte man nun vorgebeugt.
Oberst Tschigin lag im Bett und stöhnte. Man hatte ihm die Uniform ausgezogen, zudem war er gewaschen worden, hatte zwei Spritzen erhalten und sah aus wie eine Mumie, als er aus den Augenschlitzen zur Decke starrte.
Er war nicht bewusstlos geworden, trotz der Schmerzen, die in ihm wühlten. Aber die Spritzen hatten für einen lethargischen Zustand gesorgt, und von seinem verletzten Gesicht spürte er überhaupt nichts mehr. Es war wie taub.
Der Arzt sah noch einmal nach ihm. »Kannst du mich verstehen, Genosse Oberst?«, fragte er.
»Ja.«
»Es sieht nicht gut aus, das will ich dir ehrlich sagen. Es kommt auf dich, deinen Körper und deine innere Kraft an, ob du es überstehst. Ich kann dich leider nicht an den Tropf hängen, aber ich werde mit Leningrad telefonieren, damit du in die Militärklinik geschafft wirst.«
»Tu das.«
Der Arzt lächelte und verließ das Zimmer. Die Chancen standen für Tschigin nicht gut. Er hatte viel Blut verloren. Aber alte Soldaten und Kämpen wie er gehörten zu einem besonderen Menschenschlag. Die schafften vieles, was andere nicht packten. Und sie sprangen sogar hin und wieder dem Tod von der Schippe.
Oberst Tschigin blieb allein zurück. Er befand sich in dem Dämmerzustand zwischen Wachen und Träumen. Auch wenn er es gewollt hätte, es wäre ihm nicht gelungen, sich in die Höhe zu stemmen. Dazu fühlte er sich einfach zu schwach.
Sein Gesicht war stark verbunden. Er würde nie mehr so aussehen wie zuvor. Dieser verfluchte Vogelschnabel hatte ihn verunstaltet.
Zum Glück war den Augen nichts passiert. In ihrer Höhe war die Wicklung des Mulls, wie vor dem Mund, unterbrochen worden.
Das Bett stand so, dass er auf die Tür schaute. Eine graue Fläche innerhalb der grünen Wand. Er sah sie nur verschwommen, ebenso wie die Bilder, die die Tür einrahmten.
Über die aufgerissenen Lippen drang hin und wieder ein Stöhnen, denn trotz der Spritze hatten ihn die Schmerzen nicht verlassen. Er spürte sie als dumpfes Pochen, und manchmal glaubte er, dass sein Herz einen Schlag übersprang.
Tschigin dämmerte dahin.
Aber er hielt die Augen offen und starrte zur Tür. Das Licht war schwach, damit es ihn nicht blendete.
Irgendwie fühlte sich der Oberst verlassen. Dieses Gefühl war ihm neu, er hatte es nie so gekannt, denn immer war er derjenige gewesen, der Befehle erteilt hatte. Jetzt lag sein Weiterleben in der Hand eines anderen, an den er nie hatte glauben wollen.
Zeit verstrich.
Der Oberst hatte dafür kein Gefühl mehr. Er dämmerte dahin, und er fühlte, wie es ihm immer schlechter ging. Neben seiner rechten Hand lag der Schalter für den Notruf, aber den brauchte er im Augenblick nicht.
Ihm war etwas aufgefallen, und zwar an der Tür.
Bisher hatte er sie nur als graues Rechteck gesehen, doch plötzlich nahm sie Farbe an.
Und zwar ziemlich genau in der Mitte.
Zunächst glaubte er an eine Täuschung, außerdem konnte er nicht so rasch denken, aber die Tatsache blieb bestehen. In der Türmitte zeigte sich etwas Grünes, das sich nicht nur ausbreitete, sondern auch zu leuchten und zu strahlen anfing.
Etwas kam von der anderen Seite.
Er wusste nicht genau, was es war, aber tief in seinem Unterbewusstsein kristallisierten sich Erinnerungsfetzen hervor. Tschigin dachte daran, dass er dieses Leuchten schon einmal gesehen hatte.
Nur wo?
Tschigin wollte nachdenken. Das aber strengte an. Nicht nur sein Körper war geschwächt, auch sein Hirn, sodass sich die Gedanken
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