0431 - Kathedrale der Angst
einziges Wort zu sprechen.
Pierre hob die Schultern.
»Komm rein.« Madame hatte eine rauh klingende Stimme. Sie sah auch ziemlich robust und kompakt aus, hatte aber ein weiches Herz.
Er stolperte in den Schankraum. Niemand hielt sich dort auf. Es roch nach Wein und Staub, und es war kühl.
»Setz dich.« Sie drückte ihn auf einen Stuhl.
Pierre blieb dort hocken. Er starrte auf das Bild einer Heiligen, ohne es richtig zur Kenntnis zu nehmen. Ein scharfer Geruch stieg in seine Nase.
»Du mußt es trinken, Junge. Es wird dir guttun.«
Virni nickte. Das Glas war groß. Er umfaßte es mit beiden Händen, hob es an und nahm den ersten Schluck. Es schmeckte scheußlich, tat aber gut. Madame kannte eben gewisse Hausrezepte, die sie ihren Gästen in bestimmten Situationen verabreichte. Sie rückte einen Stuhl zurecht und setzte sich Pierre gegenüber. Erst nach einer Weile schaffte er es, sie anzusehen.
Madame schüttelte den Kopf. »Er kommt nicht mehr wieder, nicht wahr?« sagte sie.
Pierre nickte. Er konnte nicht reden.
Die Frau steckte sich eine Schwarze an und paffte. Sie drehte sich die Zigaretten selbst. »Ich hätte es euch vorher sagen können, aber ihr wart so darauf fixiert, etwas zu entdecken. Bei uns sagt man immer, schlafende Hunde soll man nicht wecken. Ihr habt sie geweckt, nicht?«
»Ja.«
Madame schaute auf ihre Zigarette und schob die Unterlippe vor. »Und du bist entkommen?«
»Geflohen.«
»Ist dein Freund tot?«
»Er war in der Kathedrale der Angst.«
»Sie gehört auch zu den schlafenden Hunden.«
»Aber was soll ich jetzt machen?«
Sie schaute ihn nachdenklich an. »Hast du einen Plan?«
»Nein.«
»Dann will ich dir sagen, daß es besser ist, wenn du nicht nach Paris zurückgehst.«
»Wieso?«
Madame hob die Schulter und kratzte sich am Kopf. »Du würdest Fragen ausgesetzt sein, und wie ich dich kenne, hast du nicht die Nervenstärke, um alles für dich behalten zu können. Vielleicht solltest du in ein anderes Land gehen oder hier in Alet-les-Bains bleiben. Man ist hier noch verschwiegen.«
Pierre war erstaunt. »Ich soll bleiben?«
»Ja, weshalb nicht?«
»Aber man wird mich vermissen.«
»Wer?«
»Meine Mutter.«
»Du wirst ihr schreiben, daß es dir auf dem Land besser gefällt. Sie kann dich ja besuchen.«
»Nein, sie nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Meine Mutter ist mit Leib und Seele Pariserin.«
»Dann nimm von ihr brieflich Abschied.«
Pierre hob die Schultern. »Ich weiß es nicht, Madame. Es ist einfach zu schwer, jetzt schon eine Entscheidung zu treffen.«
»Das brauchst du auch nicht. Überlege es dir gut. Du hast Zeit, viel Zeit.«
»Ja, das habe ich wohl.« Madame stand auf. »Ich muß in die Küche. Gleich kommen Gäste. Geh lieber auf dein Zimmer, dort bist du ungestört. Einverstanden?«
»Danke.«
Pierre Virni stand auf. Das Zimmer, in dem er wohnte, war ziemlich klein und hatte schräge Wände. Durch das schräge Fenster schien die Sonne auf das alte Holzbett.
Wieder saß Pierre am Tisch und grübelte. Nicht nach Paris zurückzukehren, erschien ihm plötzlich verlockend. Was sollte er dort? Die Zeiten waren schlecht. In Deutschland wurde aufgerüstet, auch die Franzosen rasselten wieder mit dem Säbel, es roch nach Krieg. War er hier im Süden nicht sicherer aufgehoben?
Wer würde ihn vermissen?
Bon, seine Mutter, auch der Professor. Und so setzte er sich nieder, um zwei Briefe zu schreiben. Den ersten adressierte er an seine Mutter. Die würde ihn lesen, vielleicht sogar zwei, drei Tränen zerdrücken und innerlich vom Sohn Abschied nehmen.
Der zweite Brief wurde länger. Er war an seinen Professor adressiert, und ihm teilte er einiges von dem mit, was er und sein Freund erlebt hatten. Pierre konnte es einfach nicht für sich behalten, wenn es auch besser gewesen wäre.
Beide Briefe schickte er am nächsten Tag ab.
Als er von der kleinen Poststation zurückkehrte und in die Morgensonne schaute, stand Madame wieder vor ihrem Haus. Mit einem Besen reinigte sie den Gehsteig.
Pierre blieb stehen. Die Sonne brannte schon jetzt auf seiner Stirn. Er nickte.
»Du hast dich also entschieden?«
»Ich bleibe hier.«
»Das ist gut.«
»Aber ich habe keine Arbeit.«
Madame lächelte breit. Auf ihrer Oberlippe wuchs der Bart wie ein dunkler Schatten. »Aber du hast zwei gesunde Hände, mein Junge. Du kannst arbeiten. Nimm dein Schicksal selbst in die Hand, pack es an, wir werden dir helfen.«
»Die Leute hier?«
»Natürlich.«
»Welchen
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