0431 - Kathedrale der Angst
dabei nach rechts geschleudert, so daß er sich vorkommen mußte wie eine Puppe im Taumel der Strömungen, die sich über seinem Kopf verdichtete, spitz zulief und dabei ein Gesicht bildete.
Es bestand aus Feuer und Schatten!
Pierre war, obwohl nicht unmittelbar betroffen, zurückgewichen. Die Angst schlug über ihm zusammen. Die Warnung war nicht umsonst geschrieben worden, denn dieses furchtbare Grinsen konnte als Fratze nur einem gehören.
Dem Teufel!
Er herrschte in der Kathedrale, und er schwebte über Gustave Rodin als grausames Wesen.
Ein widerliches und abstoßendes Dreieck aus Haaren und Haut, mit zwei gelbroten Feueraugen und einem halboffenen Mund, in dem die langen Zähne wie blanke Drahtstifte leuchteten.
Und noch etwas zeichnete das Gesicht aus. Es waren die beiden langen und verkrümmt wachsenden Hörner, die aus der Stirn stießen und mit ihren Spitzen das flackernde Ende des Höllenfeuers erreichten, das das Gesicht einschloß.
Das dunkle Feuer flackerte und tanzte, als würde es aus zahlreichen Geistern bestehen, die nur darauf bedacht waren, Gustave Rodin zu quälen und zu foltern.
Plötzlich schrie Rodin!
Nie zuvor hatte Pierre Virni einen so grausamen und markerschütternden Schrei gehört. In ihm steckte all das, was der Mann empfand, der so brüllte.
Es war das Wissen um die Hölle und den Tod, dem er nicht mehr entrinnen konnte, denn die heißen Feuerzungen umleckten ihn und verbrannten ihn auf der Stelle.
So mußte es wenigstens sein, obwohl Pierre dies nicht sah. Er konnte nicht mehr hinsehen. Virni hatte sich umgedreht. Auch er wollte schreien, nur schaffte er es nicht. Aus seinem Mund drangen gequält klingende Laute, sie sollten so etwas wie ein Abschiedsgruß für den Kommilitonen und Freund sein.
Virni blieb nichts anderes übrig, als zurückzulaufen. Er konnte einfach nicht mehr bleiben. Als er den ersten Schritt setzte, merkte er schon, wie schwer es ihm fiel. Zentnerlasten schienen auf seinem Rücken zu liegen, zudem hörte er noch immer die Rufe seines Freundes. Sie waren übergegangen in ein Schluchzen und Wimmern. Die Kathedrale der Angst hatte ihrem Namen alle Ehre gemacht.
Pierre erinnerte an einen Schlafwandler. Irgendwann hatte er die Schlucht verlassen, die Sonne blendete ihn. Ihre Strahlen knallten gegen sein Gesicht. Er öffnete den Mund und saugte die warme Luft ein. Nach der Kühle zwischen den hohen Wänden war sie für ihn wie der reinste Balsam.
Hier war das Gestein warm. Die Wände strahlten ab. Er fuhr mit den Händen darüber. Manchmal hätte er sich am liebsten hingelegt und seinen Kopf im Staub vergraben. Das ging jedoch nicht. Er mußte zurück in die kleine Stadt. Dort hatten die beiden sich einquartiert. Dort wurden sie zurückerwartet. Aber Virni konnte nicht gehen. Er mußte noch bleiben und fand einen schattigen Platz unter einer vorspringenden Felsnase. Darauf ließ er sich nieder.
Mit dem Rücken lehnte er gegen die warme Wand. Seine Augen wirkten verdreht, der Blick irgendwie leer, den er gegen die Felsdecke über sich gerichtet hatte.
Manchmal zuckten seine Mundwinkel, wenn er schluchzte. Seine Gedanken drehten sich um Gustave und um das, was die beiden entdeckt hatten.
Es war ein furchtbares Geheimnis. Sie hatten lange genug geforscht, in alten Büchern nachgelesen und waren schließlich überzeugt gewesen, daß es diesen Felsendom geben mußte.
Sie hatten ihn gefunden - und auch sein Geheimnis entdeckt. Einer von ihnen hatte den Forscherdrang mit dem Leben bezahlen müssen, und es war ihre Schuld gewesen, denn man hatte sie gewarnt. Es gab Menschen im Ort, die es nicht gern sahen, wenn man Geheimnissen auf den Grund gehen wollte, die besser verborgen bleiben sollten.
Die Leute hatten recht gehabt.
Virni stand auf. Seine Augen waren gerötet. Das lag nicht allein an den Sonnenstrahlen.
»Nein«, flüsterte er, »nein, ich werde nicht zurück nach Paris gehen und statt dessen meine Entdeckung bekanntgeben. Ich bleibe in Alet-les-Bains, das ist besser…«
Mit diesem Vorsatz verließ er das Versteck, ging ins Dorf und blickte sich nicht einmal um…
***
Es dämmerte bereits, als er Alet-les-Bains erreichte. Seine Wirtin stand in der offenen Tür des Gasthauses. Sie war eine resolute Frau und Kriegerwitwe. Im Ersten Weltkrieg war ihr Mann gefallen. Seit dieser Zeit, und das waren schon zwanzig Jahre, lebte sie allein und führte eine Gaststätte sowie eine Pension.
Virni blieb vor der Frau stehen. Sie sah ihn nur an, ohne ein
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