0436 - Tanz auf dem Scheiterhaufen
spreizte beide Hände. »Mehr als ich Finger an den Händen habe. Und es werden noch mehr. Ich habe hinter diesem, den ihr seht, fünf weitere stehen.«
»Noch tot?«
»Aber bald nicht mehr.« Genoveva war so von sich selbst und ihrer Arbeit überzeugt, daß sie den beiden Fremden alles frank und frei erklärte. Sie sprach auch weiter. »Die Menschen meiden mich. Sie haben Angst vor mir. Sie reden davon, daß ich mit dem Tod und auch mit dem Leben spiele, und sie haben recht, wenn man näher darüber nachdenkt. Ich spiele mit dem Tod und mit dem Leben, ohne mich allerdings als Herrscherin oder Richterin aufschwingen zu wollen. Das überlasse ich der Großen Mutter.«
»Dann walte deines Amtes«, sagte Suko.
»Wie meinst du?«
»Geh hin und gib ihnen das Leben. Ich möchte zuschauen, wie du die Kraft der Großen Mutter umsetzt.«
Mißtrauen glomm in den kleinen Augen der alten Frau auf. »Ich weiß nicht, aber ich kann euch nicht trauen.«
»Weshalb?«
»Ihr würdet mich nicht verstehen. Ihr seid Fremde, ihr gehört zu denen, die nicht an die Große Mutter glauben, obwohl ihr in unsere Zeit gekommen seid.«
»Was ist das für eine Zeit?«
Shao hatte die Frage gestellt. »Kindchen«, sagte die Alte. »Du solltest nicht soviel fragen. Du bist noch sehr jung und hast nicht viel Zeit, um den Tanz mitzuerleben und ihre große Stunde.«
»Wessen Stunde?«
»Die der Großen Mutter. Den Tanz am Scheiterhaufen. Es werden ihr Opfer gebracht. Die Menschen sind schon da. Das Hexentor wurde aufgestoßen, ich muß auch noch Vorbereitungen treffen.«
Sie war plötzlich sehr nervös und hatte es auch eilig. Keiner hielt sie auf, als sie quer über die Lichtung schritt und hinter der ersten Figur mit dem weißen Gesicht verschwand.
Suko holte die Peitsche hervor und schlug einen Kreis. Die drei Riemen glitten aus der Öffnung und blieben im Gras liegen.
»Was hast du vor?« fragte Shao.
»Kugeln sparen.«
»Du willst die Figuren zerschlagen?«
»Ja, denn sie sollen kein Unheil mehr anrichten. Je weniger auf dem Tanzplatz erscheinen, um so besser für uns.« Suko drückte seine Pistole Shao in die rechte Hand. »Bleib du hier, ich sehe mir das Einhauchen des Lebens einmal an.«
»Aber sei vorsichtig.«
»Immer.«
Suko nahm den gleichen Weg wie Genoveva. Seine Dämonenpeitsche hielt er dabei ausgefahren in der Hand. Die Riemen schleiften durch das Gras und bogen die Halme um.
Er sah die Alte nicht, dafür hörte er sie. Sie sprach Worte, deren Sinn Suko nicht begriff. Sie setzten sich jedoch aus dunklen Vokalen zusammen, diese Sprache wurde bestimmt keinem kleinen Kind beigebracht. Suko schlich nur mehr auf Zehenspitzen. Er wollte möglichst kein Geräusch verursachen und blieb hinter der Figur stehen, die Genoveva als lebendig bezeichnet hatte.
Noch stand sie starr.
Mit einem Menschen hatte sie zwar äußerlich Ähnlichkeit, aber ihr fehlten noch die Feinheiten, wie sie die gefährlichen Reiter gehabt hatten.
Die Alte hockte auf dem Boden. Ihre Hände wühlten dabei in einem Staubhaufen. Wuchtig schleuderte sie die einzelnen Wolken in die Höhe, die dabei aufblitzten, als wären Lichtstrahlen in sie hineingefahren. Dabei redete sie ununterbrochen, wahrscheinlich ein uraltes Hexengedicht, das die Große Mutter ihr beigebracht hatte.
Falls sie Suko gesehen haben sollte, nahm sie trotzdem keine Notiz von ihm.
Und so konnte er zuschauen. Er war überrascht, als die Alte plötzlich aufhörte zu sprechen, in die zahlreichen Falten ihres schmutzigen Rocks griff und etwas hervorholte, das zunächst wie ein helles Messer aussah, aber keines war, denn sie hielt ein geschärftes Stück Gebein in der rechten Hand.
Damit schritt sie auf eine Statue zu und ritzte in den noch weichen Schädel eine Furche.
Das wiederholte sie bei allen anderen - und sie sah Suko. Die Alte stand plötzlich da wie angeleimt.
Starr schaute sie ihn an. »Geh weg!« flüsterte sie. »Geh weg!« Ihre Stimme hatte sich verändert.
Sie klang so, als käme sie tief aus der Erde oder aus einer Gruft. »Du darfst mich nicht stören. Wer sich das herausnimmt, ist verloren. Willst du, daß ich dich töte, Fremder? Willst du das?«
»Nein!«
»Dann laß mich Leben einhauchen.« Sie lachte, drehte sich um und zog, bevor Suko es noch verhindern konnte, den spitzen Knochen über ihr Handgelenk und den Arm.
Fontänenartig sprudelte eine dünne, rote Flüssigkeit hervor.
Blut!
Die Alte drehte sich. Sie verteilte das Blut, besprenkelte damit die
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