0445 - Die Macht des Träumers
aufmerksamer als zuvor wollte er diese Entwicklung beobachten, und wenn sein Verdacht stimmte, daß hinter diesem Bewußtseinsprozeß eine Gefahr steckte, war er bereit, notfalls zähneknirschend auf das Amulett zu verzichten und sich wieder althergebrachter Hilfsmittel in seinen Auseinandersetzungen mit dämonischen Geschöpfen zu bedienen. Auch, wenn die bei weitem nicht so wirkungsvoll waren.
Die unwillkommene Bevormundung durch Merlins Stern beschäftigte ihn fast mehr als das, worum es eigentlich ging, aber er sah keine Möglichkeit, das Amulett zur Preisgabe der entsprechenden Informationen zu zwingen. Er konnte es höchstens überlisten. Aber er merkte rasch, daß er sich selbst in eine Streß-Situation gebracht hatte, in dem ihm das Denken schwer fiel. Er konnte die Lösung nicht erzwingen. Sie würde von allein kommen, wenn er sich treiben ließ.
Aber da war die Unruhe wieder, die ihn aufgeweckt hatte und jetzt nicht mehr einschlafen ließ. Er dachte an das verschwommene Bild einer bizarren Landschaft unter gelblichem Himmel. Was hatte das Amulett da entdeckt, woran es ihn nicht teilhaben lassen wollte?
Nach einer Stunde merkte er, wie sehr er sich zermürbte. Wenn er jetzt wach blieb, steigerte er sich in einen Erschöpfungszustand hinein, der über kurz oder lang zum Zusammenbruch führen würde. So wandte er eine Meditationstechnik an, um die Unruhe in sich zu unterdrücken und doch endlich einzuschlafen.
Ein Traum zeigte ihm einen Steinpalast in einer weiten Ebene. Große, dunkle Vögel zogen ihre Kreise, und auf den Zinnen der Wehrmauern, die den Palast umgaben, flackerten blaue Wachfeuer.
***
Robert Tendyke war nicht ganz so ruhig, wie er sich gab. Aber er versuchte mit seiner scheinbar überlegenen Ruhe der beginnenden Nervosität der Zwillinge vorzubeugen. Und er war froh, daß sie seine Gedanken nicht lesen konnten oder wollten.
Julian war heute nicht zum ersten Mal verschwunden, aber es war das erste Mal, daß jemand außer Tendyke es bemerkt hatte. Schon seit einigen Wochen ging das so. Manchmal war Julian einfach fort, unauffindbar. Tendyke war froh, daß der Junge immer wieder unbeschadet zurückkam. Einmal, zu Anfang, hatte er von einem Abenteuer erzählt, das er erlebt haben wollte, aber es klang mehr als unglaubwürdig und fantastisch. Dennoch war Rob Tendyke nicht sicher, ob an der Geschichte vielleicht doch etwas stimmte. Eines stand fest: Hier in der Umgebung war Julian nicht gewesen.
»Du solltest unser Versteck nicht leichtfertig verlassen«, hatte er ihm vorgeworfen. »Zu leicht könnten die Höllenmächte auf dich aufmerksam werden. Wenn sie feststellen, daß du noch lebst, werden sie alles daran setzen, unser Versteck zu vernichten und uns mit. Du bist noch nicht soweit, ihnen aus eigener Kraft Widerstand entgegensetzen zu können, Julian.«
»Du hast recht«, hatte der Junge erwidert. »Noch nicht, aber es wird schon bald der Fall sein. Doch deine Sorge ist unbegründet. Dort, wohin ich gehe, gibt es die Dämonen der Hölle nicht. Sie finden den Weg dorthin nicht. Nur ich kenne ihn.«
»Und wohin gehst du, wenn du verschwunden bist?«
»Ich kann es dir nicht sagen.«
»Wie machst du es?«
»Auch das kann ich dir nicht sagen.«
»Du mußt dennoch vorsichtig sein. Und solltest du feststellen, daß eine dir fremde Macht in deiner Nähe auftaucht, kehre sofort zurück und warne uns. Nur dann können wir auf einen Angriff vorbereitet sein.«
»Du kannst dich auf mich verlassen.«
Und nun war er wieder einmal fort. Irgendwohin. Rob Tendyke hoffte, daß ihm nichts zustieß. So viele Monate hatten sie hier ausgeharrt, hatten gehofft und gebangt, hatten sich gestritten und geliebt. Es durfte nicht umsonst gewesen sein. Nur noch kurze Zeit, dann hatte Julian seine Entwicklungsphase hinter sich. Dann würde das Versteckspiel beendet sein.
Der ungewöhnliche Vater eines ungewöhnlichen Jungen schloß die Augen.
Auch er fragte sich, wo Julian war, und er wußte, daß er ihm dort nicht helfen konnte. Denn ihm war jener Weg versperrt, solange ihn Julian ihm nicht öffnete. Und das wollte der Junge offensichtlich nicht. Er wollte sein Geheimnis mit niemandem teilen.
Vielleicht hatte er damit auch recht…
***
Etwas in Cascal verkrampfte sich. Er wußte nicht, was die Männer von ihm wollten, deren schwarze Kleidung eine gewisse Ähnlichkeit mit der von Ninjas hatte. Aber es konnte nichts Gutes sein. Denn dann hätten sie ihn einfach um ein Gespräch bitten können, statt ihm die
Weitere Kostenlose Bücher