0470 - Die blutrote Nacht
Ende zu setzen; Fremdeinwirkung schied nach Lage der Dinge aus. Es gab sogar ein mögliches Motiv: Sie war Tänzerin einer Sambaschule, und die fantasievollen Kostüme für den Karneval waren teuer, sehr teuer - für Lauretta möglicherweise zu teuer.
Die Polizei von Rio war überlastet und man war heilfroh, die Akte ganz schnell wieder schließen zu können, um sich dem nächsten Fall zu widmen.
Und weil zwischendurch jemand eigenmächtig eine nicht vorgesehene Pause einlegte, kam auch der Obduktionsbefund zu spät. Da war die Akte bereits ins Archiv unterwegs. »Bringen Sie den Befund hinterher«, murrte ein reichlich übermüdeter Ermittler, auch ohne nur einen Blick hineingeworfen zu haben, weil die Akte doch ohnehin schon fort war.
Daß die Tote so gut wie blutleer war, darüber konnte sich deshalb keiner der Beamten mehr wundern. Vielleicht wären sie von Anfang an aufmerksamer gewesen, wenn sie am Fundort der Leiche kein Blut gefunden hätten.
Doch das Ungeheuer, das Lauretta getötet hatte, war schlau.
Es hatte ihre Adern nicht vollständig geleert.
Deshalb dachte niemand an einen Vampir…
***
Voller Stolz betrachtete José Maneira sein Werk. Er hatte es geschafft, er hatte Erfolg. Sie hatten den Platz angenommen, den er ihnen geboten hatte. Der Turm der zerfallenen, seit Generationen nicht mehr benutzten Kirche war von ihnen besiedelt worden!
Maneira rieb sich die Hände. Er fühlte sich rundum zufrieden. Er hatte wieder einmal einen wertvollen Beitrag zum Artenschutz geliefert. Lächelnd stieß er den Mann im hellgrauen Anzug an, der neben ihm stand. »Na, ist das nichts, Cartagena? Ist das nicht großartig? Das soll mir erst mal jemand nachmachen!«
Cartagena verzog widerwillig das Gesicht. »Wollen Sie einen Orden?«
»Unsinn«, sagte Maneira. »Das einzige, was ich will, ist, daß ich künftig bei meinen Projekten nicht mehr von beamteten Sturköpfen blockiert werde, die sich von Leuten mit anderen Interessen kräftig schmieren lassen. Statt dessen gibt es vielleicht künftig auch die Möglichkeit, Projekte wie dieses zu bezuschussen. Sie wissen doch, Cartagena, wie die Welt auf Umwelt- und Tierschutzprojekte anspricht. Allein diese Aktion wäre schon ein Image-Objekt für die Stadt«
»Fledermäuse«, murrte Cartagena. »Ausgerechnet Fledermäuse. Ein wunderbares Image-Objekt, wirklich. Wissen Sie, wohin Sie sich Ihre Fledermäuse stecken können?«
José Maneira grinste. »Da passen sie nicht hinein«, spottete er, wurde aber sofort wieder ernst. »Hören Sie, Cartagena. Die Fledermaus ist weltweit zum Tier des Jahres 1992 ernannt worden und genießt besonderen Artenschutz. Ich habe diesen Fledermäusen hier ein kleines Paradies geschaffen. Sie haben sich hier wieder angesiedelt, nachdem die Menschen sie vorher mit ihren städtebaulichen Wahnsinn vertrieben haben! Sie fühlen sich wohl. Sie werden hier bleiben. Und Ihre Stadtverwaltung wollte den Kirchturm einfach abreißen…«
»Erstens«, sagte Cartagena, »ist es nicht meine Stadtverwaltung. Ich gehöre ihr nur an. Zweitens ist das Bauwerk dort drüben eine baufällige Ruine. Wenn ich dieses brüchige Mauerwerk nur streng angucke, bricht es doch schon in sich zusammen! Kein Wunder, daß Ihre Fledermäuse sich darin heimisch fühlen! Diese Ruine ist eine Gefahr für die Öffentlichkeit. Stellen Sie sich vor, Kinder würden darin spielen, der Turm einstürzen und die Kinder verletzt oder getötet werden…«
»Sehen Sie hier irgendwo spielende Kinder, Mann?« fragte Maneira spöttisch. »Wo sollen die auch herkommen? Vor ziemlich genau 124 Jahren wurde dieses Dorf von einem Orkan oder einer anderen Naturkatastrophe eingeebnet. Mittlerweile hat sich auch das Sumpfland entsprechend ausgedehnt, hat sich das zurückgeholt, was man ihm seinerzeit abgetrotzt hat. Hier will doch kein Mensch mehr leben, und das trotz der ständigen Wohnungsnot um und in Rio.«
»Trotzdem könnte es sein, daß sich spielende Kinder bis hierher verirren. Sind Sie nie auf Abenteuer ausgegangen, als Sie noch ein kleiner Junge waren? Das kann hier auch passieren. Man muß mit allem rechnen.«
»Ja, auch damit, daß man sich beim Nasenbohren den Finger abbricht oder überraschend auf Erdöl stößt…«
Cartagena winkte verdrossen ab. Das alles hatten sie schon zigmal durchgekaut. Die Stadtverwaltung hatte die Reste des damals untergegangenen Dorfes - auf den Landkarten fand sich dafür nicht einmal mehr ein Name - vollständig einebnen wollen. Die Bulldozer
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