0485 - Die Furie
Zamorra beabsichtigte. »Können Sie diesen starken Verkehrsfluß nicht etwas in Grenzen zwingen, Robin?« erkundigte er sich.
Der Chefinspektor schüttelte den Kopf. »Warten Sie ein paar Stunden, dann hört es von selbst auf. Nach 9 Uhr abends ist hier Totenstille.«
Zamorra schüttelte den Kopf. So lange wollte er nicht warten. »Wenn Sie absperren, braucht das nur für ein paar Minuten zu sein«, sagte er.
Robin verneinte abermals. »Sie sehen doch, was hier los ist«, sagte er. »Blitzschnell würde ein Chaos entstehen, wie es in Paris an der Tagesordnung ist. Zudem müßte ich Kollegen von der Verkehrspolizei hinzuziehen. Meinen Sie nicht, Zamorra, daß das etwas zuviel Aufwand ist?«
Zamorra zuckte mit den Schultern. Er sah die Kreidestriche auf der Straße, die schon fast gänzlich wieder vom Asphalt gerieben worden waren. Er wollte mit Hilfe des Amuletts einen Blick in die Vergangenheit werfen, um herauszufinden, wie François Merchant hier rapide gealtert und gestorben war. Dazu mußte er aber direkt an die Stelle des Leichenfundes. Nur dort konnte er die ›Zeitspur‹ aufnehmen und in die Vergangenheit zurückverfolgen.
Aber Robin wollte oder konnte ihn in diesem Punkt nicht unterstützen.
»Na schön«, brummte Zamorra. »Dann müssen wir das Pferd eben etwas umständlicher aufzäumen. Dann muß ich zu der Stelle, wo der verlassene Wagen stand. Können Sie uns dorthin bringen, Robin?«
Robin konnte.
Hier war es wesentlich ruhiger. Eine Nebenstraße, eine Art Schleichpfad, nur von wenigen benutzt, die die Abkürzung zwischen zwei Verkehrsadern kannten. Ringsum Häuser, deren Bewohner vermutlich über jede Art von Abwechslung hocherfreut waren - solange sie nicht selbst dabei zu Schaden kamen.
Auch die Stelle, an der Merchants Auto gefunden worden war, war markiert.
Hier fand Zamorra die Ruhe, sich in Halbtrance zu versetzen und einen Blick in die Vergangenheit zu werfen.
»Was macht er da?« fragte Robin leise.
»Stören Sie ihn nicht«, warnte Nicole. »Aber sehen Sie die handtellergroße Silberscheibe, die er in den Händen hält? Treten Sie leise neben Zamorra und betrachten Sie die Scheibe. Aber stören Sie Zamorra nicht, ganz gleich, was Sie sehen.«
»Rätselhafter hätte es die Sibylle von Cumae auch nicht ausdrücken können«, knurrte Robin und blickte Zamorra über die Schulter. Verblüfft sah er, daß sich im Zentrum des Amuletts eine Art Miniaturbildschirm manifestiert hatte. Das zeigte die unmittelbare Umgebung. Robin zuckte zusammen, als er plötzlich Menschen und Fahrzeuge sah, die sich in rasendem Tempo rückwärts durch das Bild bewegten. Er trat einen Schritt zurück und fragte Nicole: »Was, um Himmels Willen, ist das?«
»Ein Blick in die Vergangenheit«, sagte Nicole. »Schauen Sie ruhig weiter zu. Was Sie da sehen, Robin, ist keine Illusion, sondern ein echtes Abbild dessen, was sich hier vor Stunden zugetragen hat. Leider steigt der Aufwand an psychischer und physischer Kraft mit der Zeitspanne, die überblickt werden soll. Alles, was mehr als 24 Stunden zurückliegt, lohnt den Aufwand nicht mehr - höchstens in ganz besonderen Ausnahmefällen. Je weiter das Beobachtungsziel zurückliegt, desto höher der Kraftaufwand. Deshalb ist es auch schade, daß Zamorra nicht am Fundort der Leiche beginnen konnte. Das Verlassen des Fahrzeugs liegt ja mit Sicherheit weiter zurück.«
Robin nickte und fuhr sich mit der Zungenspitze über die Unterlippe. »Verrückt, das alles«, sagte er. Aber dann schaute er weiter zu, was sich auf diesem ›Mikro-Bildschirm‹ abspielte.
Plötzlich taumelte jemand rückwärts in das Bild, die Arme vorgestreckt wie ein Schlafwandler. Ein noch recht junger Mann! Er fiel auf den Fahrersitz des Autos, das sich alsbald rückwärts entfernte.
»Das war dieser Merchant«, entfuhr es Robin leise. »Sein Aussehen stimmt mit den Fotos überein, die wir in seiner Wohnung gefunden haben - und natürlich auch in seinem Paß und Führerschein.«
Nicole berührte seine Schulter. »Erstaunt?«
»Ja. Was nun?«
Zamorra beantwortete seine Frage wortlos. Das Bild lief jetzt wieder vorwärts. Merchant stoppte den Wagen, ließ ihn mit laufendem Motor stehen und sprang ins Freie, um wie ein Schlafwandler davonzuschreiten. Er bewegte sich schnell. Zamorra versuchte zu erkennen, wie es in Merchants unmittelbarer Umgebung ausgesehen hatte, aber die Reichweite war zu begrenzt. Das Amulett konnte ihm zwar Merchant und alles, was unmittelbar um ihn herum war, zeigen,
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