0485 - Die Furie

aber wenn nur zehn Meter entfernt jemand dem Todeskandidaten zuwinkte und vor ihm her lief, konnte dieser Jemand schon nicht mehr erfaßt werden. Zamorra wollte aber auch nicht riskieren, ›vorauszueilen‹ - es mochte der allerdings unwahrscheinliche Fall eintreten, daß entweder Merchant einen Schlenker machte und dabei abseits des Weges etwas sehr Wichtiges passierte, oder daß es zu Schlüsselerlebnissen auf der ›geraden‹ Strecke kam, die der nachträgliche Beobachter durch sein Vorauseilen natürlich verpaßte.
    Zamorra verließ seinen Standort.
    Immer noch in Halbtrance, ging er jetzt denselben Weg, den in der Nacht François Merchant gelaufen oder getaumelt war. Schritt für Schritt blieb Zamorra ihm auf der Spur. Nur so konnte er das Geschehen weiter verfolgen.
    Verblüfft erkannte er, daß Merchants Alterungsprozeß bereits jetzt eingesetzt hatte und rapide voranschritt. Aber erst kurz vor Erreichen der Stelle, an der der Leichnam dann aufgefunden worden war, schlug eine fremde Macht zu. Erstaunt erkannte Zamorra, daß das Amulett nicht in der Lage war, diese fremde Macht abzubilden. Etwas Unsichtbares, Unbegreifliches packte nach Merchant, ermordete ihn auf eine unbeschreibliche Weise und schleuderte das, was von dem Opfer übriggeblieben war, einfach achtlos zur Seite.
    Zamorra versuchte in mehreren Anläufen, den unsichtbaren Killer zu erfassen und ein Bild von ihm zu bekommen, aber es gelang ihm einfach nicht. Der Killer mußte über eine erstklassige magische Abschirmung verfügen; er war und blieb selbst für die Kraft einer entarteten Sonne ungreifbar, aus welcher Merlin das Amulett einst geformt hatte.
    Da war nichts zu machen.
    Zamorra löste sich wieder aus seiner Halbtrance. »Das ist ausgesprochenes Pech«, brummte er. »Ich hatte mir von diesem Versuch wesentlich mehr versprochen. Sie sollten mich trotzdem noch nicht endgültig in die Wüste schicken, Robin.«
    Der Chefinspektor schwieg.
    »Was hast du jetzt vor, cheri?« fragte Nicole.
    Zamorra zuckte mit den Schultern. »Ich muß mich von dieser Anstrengung erst wieder erholen«, gestand er. »Und danach könnte es passieren, daß ich diese verflixte Silberscheibe in einen Schmelzofen werfe. Immer öfter verweigert sie in der letzten Zeit den Dienst. Gerade so, als stecke hinter der sich hin und wieder bei uns beiden meldenden telepathischen Stimme tatsächlich ein denkendes Bewußtsein.«
    »Und wenn es wirklich so ist? Wenn in diesem Amulett tatsächlich ein echtes Bewußtsein entstanden ist?«
    Zamorra sah Nicole stirnrunzelnd an.
    »Ich schätze, dann gibt es ein paar ganz dicke Probleme. Vor allem, was die praktische Anwendung der Menschenrechte angeht. Wer schon andere Hautfarben, andere Religionen oder anderes Kulturdenken nicht toleriert, sondern mit perverser Begeisterung niederzukämpfen versucht, wird erst recht nicht damit zurechtkommen, daß vielleicht sogar ein toter Gegenstand lebt. Zugegeben - ich habe auch meine Schwierigkeiten damit.«
    »Ich denke, also bin ich«, zitierte Nicole René Descartes. »Könnte man nicht einfach von diesem Leitgedanken ausgehen? Wenn Merlins Stern denkt, lebt er!«
    »Bei aller Toleranz fühlte ich mich da alles andere als wohl«, murmelte Zamorra. Er verstaute die Silberscheite wieder. »Was tun wir jetzt, nachdem wir keine weiteren Erkenntnisse über den Drahtzieher im Hintergrund gewinnen konnten?«
    »Hoffentlich entscheiden Sie sich nicht dafür, auf den nächsten Mordfall dieser Art zu warten«, sagte Robin.
    Zamorra schüttelte den Kopf.
    »Geben Sie mir etwas Zeit zum Nachdenken«, bat er. »Momentan bin ich durch meinen Krafteinsatz und die daraus resultierende innerliche Leere regelrecht neben der Welt. Ich brauche etwas Zeit. Vielleicht hilft mir der Zauberer-Spektakel ja ein wenig, auf die richtige Spur zu gelangen.«
    Robin räusperte sich.
    »Bis jetzt«, sagte er, »habe ich von Ihnen nur eine große Klappe und etwas Hokuspokus gesehen. Das mit dem Bild im Zentrum der Silberscheibe kann ein technischer Trick sein. Hören Sie, Zamorra: Versuchen Sie nicht, mich auf den Arm zu nehmen.«
    »Dafür wären Sie mir ein paar Kilo zu schwer«, beschwichtigte Zamorra. »Vertrauen Sie mir einfach. Ich weiß, was ich tue. Dies ist ja nicht der erste rätselhafte Fall, mit dem ich zu tun habe.«
    Robin hüstelte dezent.
    »Ich bin wahrlich gespannt darauf, welche Weisheiten Sie wie der Zauberer aus dem Hut holen werden.«
    ***
    Phil Textor spürte, daß Lucy sich anders verhielt als