0488 - Blutregen
einiges aus den vielfältigen, komplizierten Kreidezeichen schließen. Aber welche Zaubersprüche dazu verwendet worden waren, das wußte nur der Gnom selbst. Also konnte niemand den Weg nachvollziehen, den er gegangen war.
Enttäuscht betrachtete er die kleine Blüte. »Nicht einmal groß genug, daß es sich lohnen würde, den Blütenstaub abzuernten und Honig daraus zu machen«, murmelte er. »Sag, kleine Blume, kannst du mir nicht verraten, wo mein Herr sich aufhält?«
Doch die Blume schwieg sich aus, wie es ihrer Art zueigen war.
In einiger Entfernung entdeckte der Gnom die Umrisse einer von einem Schutzwall umsäumten Ortschaft. Nahe dem dorthinführenden grauen Band der Straße lag etwas, das wie eine Kaserne aussah. Der Gnom zuckte mit den Schultern. Wenn sein Gebieter noch unter den Lebenden weilte, hatte er sich bestimmt dorthin gewandt. Also lag ein beträchtlicher Fußmarsch vor dem Verwachsenen.
Das gefiel ihm nicht besonders; durch seine körperliche Mißbildung war er nie sonderlich gut zu Fuß gewesen. Aber es blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als in diesen sauren Apfel zu beißen.
Erschrocken zuckte er zusammen, als es am Boden unmittelbar neben ihm einmal laut klackte und knirschte und Sekunden später sich etwas mit starkem Druck um sein rechtes Fußgelenk schloß. Er starrte entgeistert auf eine Mischung aus Käfer und Wurm, groß wie eine wohlgenährte Ratte und mit Beißzangen ausgestattet, die einem Bauern als Sicheln wohlangestanden hätten. Der Druck verstärkte sich. Der Namenlose schrie auf und trat mit dem anderen Fuß kräftig auf den Käferwurm. Die Chitinschale platzte auf, der Druck um das Gelenk des Namenlosen ließ nach. Hastig befreite er seinen Fuß und zerstampfte das bissige Kleinraubtier.
Vorsichtshalber schaute er sich um, ob das Biest, das sich heimtückisch an ihn herangeschlichen hatte, nicht noch ein paar rachsüchtige Geschwister hatte. Aber es schien sich um einen Einzelgänger gehandelt zu haben.
Vorsichtig untersuchte der Gnom seinen Fuß; die Druckstelle war deutlich sichtbar, und das Leder seines mit einer hochgerollten Schnabelspitze versehenen Stiefelchens war fast gänzlich durchschnitten. Ohne den Stiefelschaft hätte der Gnom eine böse Verletzung davongetragen…
Nach dieser Begegnung hätte er Zamorra verraten können, wie im Laufe der Jahrhunderte das nur scheinbar widersinnige Tabu entstanden war, daß trotz Nacktheit unbedingt Schuhe getragen werden mußten - zumindest, wenn man sich außerhalb der eigenen vier Wände bewegte!
Aber natürlich konnte Zamorra ihn nicht danach fragen.
Ständig mißtrauisch nach weiteren kleinen Bestien Ausschau haltend, nahm der Gnom sein Bündel mit den magischen Utensilien und wandte sich mit recht gemischten Gefühlen in Richtung auf die Ortschaft. Wie würde man ihn dort empfangen? Würde man ihn seines Aussehens wegen auslachen, oder ihn gar mit Steinen bewerfen und davonjagen?
Er mußte mit allem rechnen. Eine unbarmherzige Schicksalsfügung hatte ihn mit dieser unglücklichen Gestalt geschlagen. Und er konnte schon froh sein, daß er überhaupt noch lebte.
Denn trotz aller Verachtung, die ihm immer wieder von »normalen« Menschen entgegenschlug, lebte er verdammt gern.
***
Cristofero hatte nachgedacht. Die Ohrfeige, die Nicole Duval ihm verpaßt hatte, würde er ihr so schnell nicht vergessen. Aber was sie ihm an Beleidigungen und Vorwürfen an den Kopf geworfen hatte - das war nichtig. Sie stand weit unter ihm. Warum also sollte er sich beleidigt fühlen? Er war bereit, ihr zumindest das großmütig zu verzeihen. Nur in einem Punkt hatte sie vielleicht recht: Seine Frage nach der Erbschaft war vielleicht etwas pietätlos und verfrüht gewesen. Aber in einer Zeit, in der jeder nur an sich selbst dachte, mußte er schließlich auch mal an sich denken, damit er nicht zu kurz kam.
Was ihn betroffen machte, war, daß Zamorra sich so vehement auf die Seite seiner Mätresse stellte. Nein, dies war wirklich keine Zeit, in welcher Cristofero sich noch wohlfühlen konnte. Es drängte ihn, in seine Epoche zurückzukehren, in der die Welt noch einigermaßen in Ordnung war. Aber um das zu bewerkstelligen, brauchte er vermutlich Zamorras Hilfe. Er mußte sich also nach wie vor so weit wie möglich mit dem gelehrten Exorzisten gutstellen. Denn so, wie es aussah, brachte der Namenlose eine Rückkehr nicht mehr zustande. Cristofero wollte sich nicht mehr auf den Zufall verlassen daß der Gnom es wider Erwarten doch
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