05 - Denn bitter ist der Tod
gerade unorthodox genug, um eine Kameraderie mit den Studenten zu fördern, die sonst wahrscheinlich nicht möglich gewesen wäre. Denn ein Rebell übte ja auf junge Menschen im allgemeinen eine besondere Anziehung aus.
War es bei diesen Gegebenheiten wirklich so unwahrscheinlich, daß Elena Weaver die Aufmerksamkeit Thorssons gesucht hatte und sich, von ihm zurückgewiesen, aus Rache die Anschuldigung wegen sexueller Belästigung ausgedacht hatte? War es umgekehrt wirklich so unwahrscheinlich, daß Thorsson eine Beziehung zu Elena Weaver aufgenommen hatte, nur um dann entdecken zu müssen, daß sie kein kleines Dummchen war, das man jederzeit wieder fallenlassen konnte, sondern eine Frau, die ihn festnageln wollte.
Lynley starrte auf das schmucke Haus und sagte sich, daß sich in diesem Fall letztlich alles auf eine kritische Tatsache zuspitzte: Elena Weaver war gehörlos gewesen. Und die entscheidende Frage war: Wer hatte am Sonntag abend ein Schreibtelefon benutzt, um im Haus Anthony Weavers anzurufen.
Thorsson war in Elenas Zimmer gewesen. Er kannte sich mit dem Schreibtelefon aus. Er hätte leicht den Anruf machen können, der Justine Weaver abgehalten hatte, am Montag morgen zum verabredeten Treffpunkt mit Elena zu kommen. Vorausgesetzt, Thorsson hatte gewußt, daß Elena mit ihrer Stiefmutter zu laufen pflegte; vorausgesetzt, es hatte nicht jemand anders, der Zugang zu einem Schreibtelefon hatte, den Anruf getätigt; vorausgesetzt, es hatte überhaupt einen solchen Anruf gegeben.
Lynley ließ den Wagen an und fuhr langsam durch die baumbestandenen Straßen. Er dachte an die beinahe blitzartig entstandene Abneigung Barbara Havers' gegen Lennart Thorsson. Barbara hatte im allgemeinen ein scharfes Gespür für Unehrlichkeit und Heuchelei, und sie war alles andere als fremdenfeindlich. Sie hatte nicht erst Thorssons hübsches Häuschen im gutbürgerlichen Vorort sehen müssen, um das Ausmaß seiner Falschmünzerei zu erkennen. Lynley kannte sie gut genug, um zu wissen, daß sie nunmehr, da sie wußte, daß Thorsson in den frühen Morgenstunden des Montags nicht zu Hause gewesen war, darauf brannte, ihn zu überführen.
Obwohl alle Fakten, die sie zur Hand hatten, auf Lennart Thorsson deuteten, war Lynley gerade die Lückenlosigkeit, mit der sich da eins ins andere fügte, nicht geheuer. Er wußte aus Erfahrung, daß Mord oft eine nüchterne Angelegenheit war und häufig der Hauptverdächtige auch der Täter war. Er wußte aber auch, daß mancher Mord seinen Ursprung in dunkleren Abgründen der Seele hatte und ihm Motive zugrunde lagen, die weit komplizierter waren, als es aufgrund der ersten Indizien zunächst den Anschein hatte. Während er Personen und Fakten dieses besonderen Falls Revue passieren ließ, begann er andere Möglichkeiten zu erwägen als jene, hinter der schlicht und einfach die Notwendigkeit stand, ein junges Mädchen zu beseitigen, weil es schwanger war.
Er dachte an Gareth Randolph, der gewußt hatte, daß Elena einen Geliebten hatte, und sie dennoch geliebt hatte. Er hatte in seinem Büro bei der Vereinigung gehörloser Studenten ein Schreibtelefon. Er dachte an Justine Weaver, die ihm von Elenas Sexualgepflogenheiten erzählt hatte; die keine eigenen Kinder hatte; die Zugang zu einem Schreibtelefon hatte. An Adam Jenn, der sich auf Anthony Weavers Bitte regelmäßig mit Elena getroffen hatte; dessen Zukunft von seiner Promotion bei Weaver abhing; der in Weavers Arbeitszimmer im Ivy Court ein Schreibtelefon zur Verfügung hatte. An Sarah Gordon, die am Montag abend im Ivy Court gewesen war.
Er bog nach Westen ab und fuhr in Richtung Stadtmitte zurück. Immer wieder endeten seine Überlegungen bei Sarah Gordon. Sie ließ ihm keine Ruhe.
Sie wissen doch, warum, hätte Barbara Havers gesagt. Sie wissen genau, warum sie Ihnen nicht aus dem Kopf geht. Sie wissen, an wen sie Sie erinnert.
Er konnte es nicht leugnen. Und er konnte auch nicht bestreiten, daß er am Ende eines Tages, wenn er müde und erschöpft war, am anfälligsten war für alles und jeden, der ihn an Helen erinnerte. Das ging nun schon beinahe ein Jahr so. Sarah Gordon war schlank, dunkel, sensibel, intelligent, leidenschaftlich. Aber, sagte er sich, diese Eigenschaften waren nicht der einzige Grund, weshalb sich seine Gedanken gerade in dem Moment ihr zuwandten, da Motiv und Situation klar auf Lennart Thorsson deuteten.
Es gab andere Gründe, Sarah Gordon nicht außer acht zu lassen. Sie mochten nicht so auffallend sein
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