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05 - Denn bitter ist der Tod

05 - Denn bitter ist der Tod

Titel: 05 - Denn bitter ist der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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für das Kind durchflutete ihn. Unvorbereitet auf diese plötzliche Gefühlswallung, zog er eines von Penelopes Büchern zu sich heran und flüchtete in die Lektüre eines Berichts über Whistlers Pariser Jahre. Mit einem akademisch gestelzten und verschraubten Satz wurde Whistlers erste Geliebte in Paris abgetan: ›Er nahm ein Leben auf, das ihm für einen Bohemien angemessen schien, wobei er sogar soweit ging, sich in eine kleine Midinette zu verlieben - genannt La Tigresse, ganz im Einklang mit den in jener Epoche beliebten Übertreibungen -, mit der er eine Zeitlang zusammenlebte und die ihm Modell saß.‹ Lynley las weiter, aber die Midinette kam nicht mehr vor. Für den Verfasser dieses Werks war sie in einem Bericht über Whistlers Leben nur einen einzigen Satz wert gewesen, ohne Rücksicht darauf, wieviel sie ihm vielleicht bedeutet hatte, wie sehr sie ihn vielleicht in seinem Schaffen beeinflußt und inspiriert hatte.
    Ein Nichts, sagte dieser beiläufige Satz. Eine Frau, die er gemalt hat und mit der er geschlafen hat. In die Geschichte war sie als Whistlers Geliebte eingegangen. Als eigenständige Persönlichkeit war sie längst vergessen.
    Er stand auf und ging durch das Zimmer zum offenen Kamin, auf dessen Sims die Familienfotos standen; Penelope mit Harry, Penelope mit den Kindern, Penelope mit ihren Eltern, Penelope mit ihren Schwestern. Nicht eine Aufnahme zeigte Penelope allein.
    »Tommy?«
    Er drehte sich um. Helen war hereingekommen und blieb an der Tür stehen. Hinter ihr stand Penelope.
    Ich glaube, ich verstehe euch jetzt, wollte er zu ihnen beiden sagen. Ich glaube, ich habe es endlich verstanden. Aber in dem Bewußtsein, daß sein Verständnis nur unvollkommen sein konnte, da er ein Mann war, sagte er statt dessen: »Harry wollte sich etwas zu essen machen. Danke für deine Hilfe, Pen.«
    Ihre Antwort darauf war zaghaft und flüchtig: ein leises Zucken ihrer Lippen, das ein Lächeln hätte sein können, ein leichtes Nicken. Dann ging sie zum Sofa und begann, die Bücher einzusammeln. Sie stapelte sie auf dem Boden und nahm das Baby hoch.
    »Sie müßte längst gefüttert werden«, sagte sie. »Es wundert mich, daß sie noch nicht schimpft.« Sie ging aus dem Zimmer. Sie hörten sie die Treppe hinaufsteigen.
    Sie sprachen erst, als sie im Wagen saßen, auf der kurzen Fahrt zur Trinity Hall, wo in der Studentenhalle das Jazzkonzert stattfinden sollte. Helen war es, die das Schweigen brach.
    »Sie ist wieder richtig lebendig geworden, Tommy. Ich kann dir nicht sagen, wie froh ich bin.«
    »Ja, ich weiß. Ich habe den Unterschied gesehen.«
    »Den ganzen Tag hat sie sich mit etwas beschäftigt, was endlich mal nicht mit Haushalt und Familie zu tun hatte. Sie braucht das.«
    »Hast du mit ihr darüber gesprochen?«
    »Ja. Und weißt du, was sie gesagt hat? ›Ich kann sie doch nicht einfach im Stich lassen. Sie sind meine Kinder, Helen. Was bin ich denn für eine Mutter, wenn ich einfach gehe?‹«
    Lynley sah sie an. Sie hatte das Gesicht abgewandt. »Helen, du kannst dieses Problem nicht für sie lösen, das weißt du doch.«
    »Nein, aber ich muß sie stützen. Ich kann jetzt nicht einfach abreisen.«
    »Du willst länger bleiben?« fragte er augenblicklich niedergeschlagen.
    »Ich telefoniere morgen mit Daphne. Sie kann ihren Besuch noch eine Woche verschieben. Sie wird sicher nichts dagegen haben. Sie hat ja selbst eine Familie.«
    Ohne zu überlegen, sagte er: »Ach, Helen, verdammt, wenn du doch...« Dann brach er ab.
    Er spürte, daß sie sich zu ihm umdrehte und ihn aufmerksam ansah. Er sagte nichts mehr.
    »Du hast Pen gutgetan«, sagte sie. »Ich glaube, du hast sie gezwungen, sich etwas anzuschauen, was sie nicht sehen wollte.«
    Das war ihm kein Trost. »Es freut mich, daß ich wenigstens für jemanden gut bin.«
    Er stellte den Bentley in der Garret Hostel Lane ab, ein paar Schritte von der Fußgängerbrücke über den Cam entfernt. Sie gingen das kurze Stück bis zum Pförtnerhaus des College zu Fuß. Die Luft war kalt und feucht. Dichte Wolken verhüllten den Nachthimmel.
    Lynley sah Helen an. Sie ging so dicht neben ihm, daß ihre Schulter die seine berührte. Er nahm ihre Wärme wahr und ihren frischen Duft. Er sagte sich, daß das Leben aus mehr bestand als der sofortigen Befriedigung der eigenen Wünsche. Und er bemühte sich, das zu glauben.
    Er sagte, als hätte es in ihrem Gespräch keine Unterbrechung gegeben: »Aber bin ich für dich gut, Helen? Das ist doch die wahre

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