05 - Denn bitter ist der Tod
allgemeinen vergangenes Unrecht, nicht wahr? Man kann sich so schlecht auf die Zerstörung des eigenen Selbst konzentrieren, wenn plötzlich der andere so ungeheuer wichtig ist.«
Die Haustür wurde geöffnet. Wieder Schritte. Einen Augenblick später erschien Harry Rodger an der Wohnzimmertür.
»Hallo, Tommy!« sagte er. »Ich hatte keine Ahnung, daß du in Cambridge bist.« Aber er blieb, wo er war, fühlte sich sichtlich unwohl. In der Hand trug er eine offene Sporttasche, aus der der Ärmel eines weißen T-Shirts hervorsah. »Du siehst frisch aus«, sagte er zu seiner Frau und trat nun doch einige Schritte ins Zimmer. Sein Blick flog zum Sofa, den Büchern, die dort lagen. »Ach so.«
»Tommy hat mich gestern abend nach Whistler und Ruskin gefragt.«
»Ach ja.« Rodger warf Lynley einen kühlen Blick zu.
»Ja«, fuhr sie eifrig fort. »Weißt du, Harry, ich hatte ganz vergessen, wie spannend die Situation zwischen den beiden -«
»Ja, ja natürlich.«
Langsam hob Penelope eine Hand, als wollte sie sich vergewissem, daß ihr Haar in Ordnung war. Die feinen Linien um ihre Mundwinkel vertieften sich. »Ich hole Helen«, sagte sie zu Lynley. »Sie liest den Zwillingen vor. Sie hat dich wahrscheinlich nicht kommen hören.«
Als sie gegangen war, trat Rodger ans Sofa und streichelte mit den Fingerspitzen die Stirn des Babys. »Wir sollten dich Aquarella taufen«, sagte er. »Das würde Mami gefallen, hm?« Mit einem Lächeln grimmigen Spotts sah er Lynley an.
Lynley sagte: »Die meisten Menschen haben neben der Familie noch andere Interessen.«
»Zweiter Ordnung. Die Familie kommt immer zuerst.«
»Das wäre bequem, ja. Aber die Menschen lassen sich nun mal nicht alle in die bequemste Form pressen.«
»Penelope ist Frau und Mutter.« Rodgers Stimme war ruhig, aber hart und unnachgiebig. »Sie hat sich vor vier Jahren dafür entschieden. Sie wollte eine Familie, sie wollte diese Familie lieben und für sie sorgen. Statt dessen deponiert sie ihr Kind in einem Wäschehaufen, während sie in Kunstbüchern schmökert und der Vergangenheit nachweint.«
Lynley fand die Verurteilung angesichts der Umstände, die Penelopes Interesse an der Kunst wieder geweckt hatten, besonders unfair. Er sagte: »Hör mal, das war meine Schuld. Ich wollte gestern eine Auskunft von ihr.«
»Ja, gut. Ich verstehe. Aber für sie ist das vorbei, Tommy. Dieser Teil ihres Lebens.«
»Und wer sagt das?«
»Ich weiß, was du denkst. Aber du täuschst dich. Es war ein gemeinsamer Entschluß. Aber jetzt will sie ihn nicht mehr akzeptieren. Sie will sich nicht danach richten.«
»Warum muß sie das denn? So ein Entschluß ist schließlich nicht unumstößlich, oder? Warum kann sie nicht beides haben? Ihren Beruf und ihre Familie.«
»Weil es dabei immer nur Verlierer gibt. Alle Betroffenen leiden.«
»Ach, und so leidet nur Pen?«
Rodgers Gesicht wurde eisig, aber seine Stimme blieb völlig ruhig. »Ich kenne solche Arrangements, Tommy. Ich erlebe sie bei meinen Kollegen. Die Frauen gehen ihre eigenen Wege, und die Familie zerfällt. Und selbst wenn es Pen gelänge, die Rollen von Frau, Mutter und Restauratorin unter einen Hut zu bringen, was sie aber eben nicht kann, deshalb hat sie ja ihre Stellung am Fitzwilliam aufgegeben, als die Zwillinge dawaren -, sie hat doch hier alles, was sie braucht. Einen Mann, ein ordentliches Einkommen, ein schönes Zuhause, drei gesunde Kinder.«
»Aber das reicht ihr vielleicht nicht.«
Rodger lachte scharf. »Du redest wie sie. Sie hat sich selbst verloren, erklärt sie mir. Sie sei nur noch eine Verlängerung aller anderen. So ein Quatsch! Dinge hat sie verloren! Das, was sie von ihren Eltern bekommen hat. Das, was wir uns leisten konnten, als wir noch beide gearbeitet haben. Dinge!« Er stellte seine Tasche neben dem Sofa ab und rieb sich müde den Nacken. »Ich habe mit ihrem Arzt gesprochen. Er meint, ich solle ihr einfach Zeit lassen. Das seien die typischen post-partum-Erscheinungen. In ein paar Wochen werde sich das geben. Ich kann nur sagen, hoffentlich bald. Ich bin nämlich mit meiner Geduld ziemlich am Ende.« Er wies mit dem Kopf auf das Baby. »Würdest du mal einen Moment auf sie aufpassen? Ich muß mir was zu essen machen.«
Damit eilte er aus dem Zimmer. Der Säugling gluckste und streckte die Ärmchen in die Luft.
Lynley setzte sich neben den Wäschehaufen und nahm eines der kleinen Händchen. Die zarten Finger umfaßten seinen Daumen, und ein warmer Strom von Zärtlichkeit
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