05 - Denn bitter ist der Tod
Gefühle überhaupt zu haben. Und nur um auf diese Frage eine Antwort zu bekommen, nicht um den Panzer einer so beherrschten Person zu durchbrechen, stellte er seine letzte Frage: »Elena wurde gestern morgen von einer Malerin aus Grantchester gefunden«, sagte er. »Sie heißt Sarah Gordon. Kennen Sie sie?«
Hastig bückte sie sich, um ein kleines Blättchen aufzuheben, das kaum wahrnehmbar auf dem Parkettboden lag. Sie rieb mit einem Finger über die Stelle, drei-, viermal vor und zurück, als hätte das Blättchen das Holz beschädigt. Dann richtete sie sich wieder auf.
»Nein«, antwortete sie und blickte ihm direkt in die Augen. »Ich kenne keine Sarah Gordon.« Es war eine Glanzvorstellung.
Er nickte, öffnete die Tür und trat hinaus. Ein Irish Setter mit einem schmutzigen Tennisball im Maul kam ihnen entgegengesprungen. Mit langen Sätzen jagte er über den Rasen, sprang über einen weißen Gartentisch und lief über die Auffahrt, direkt auf Lynley zu. Er machte halt, ließ den Ball fallen und wedelte erwartungsvoll mit dem Schwanz. Lynley hob den Ball auf und schleuderte ihn über die Zypresse hinweg. Mit freudigem Kläffen rannte der Hund hinterher. Wieder kam er über den Rasen gesprungen, wieder setzte er über den Gartentisch, wieder legte er Lynley den Ball zu Füßen. Noch einmal, bettelte sein Blick. Noch einmal.
»Sie ist immer am späten Nachmittag hergekommen, um mit ihm zu spielen«, bemerkte Justine. »Er wartet auf sie. Er weiß nicht, daß sie nie wieder kommt.«
»Adam hat mir erzählt, daß der Hund morgens mit Ihnen und Elena gelaufen ist«, sagte Lynley. »Haben Sie ihn gestern, als Sie allein gelaufen sind, auch mitgenommen?«
»Nein, das war mir zu mühsam. Er hätte zum Fluß hinuntergezogen, und dahin wollte ich ja nicht.«
Lynley kraulte den Setter hinter den Ohren. Als er aufhörte, stupste der Hund ihn an. Lynley lächelte.
»Wie heißt er?«
»Sie hat ihn Townee genannt.«
Justine erlaubte sich keine Reaktion. Aber sie reagierte doch. Sie merkte es, als sie in der Küche stand und sah, wie verkrampft sie das Wasserglas hielt. Sie drehte den Hahn auf, ließ das Wasser einen Moment laufen, hielt das Glas darunter.
Es war, als wären jeder Streit und jede Diskussion, jeder Moment flehentlicher Bitte und jede Sekunde der Leere dieser letzten Jahre in dieser einen Feststellung zusammengefaßt und komprimiert worden: Sie und Ihr Mann haben keine Kinder.
Und sie selbst hatte dem Mann die Gelegenheit zu dieser Bemerkung gegeben: Man liebt einen Mann. Man möchte ein Kind von ihm. Aber nicht hier, nicht jetzt, nicht in diesem Haus, nicht von diesem Mann.
Ohne das Wasser abzudrehen, hob sie das Glas zum Mund und zwang sich zu trinken. Sie füllte das Glas ein zweites Mal und trank wieder. Erst dann drehte sie den Hahn zu und hob den Blick von der Spüle, um durch das Küchenfenster in den Garten hinauszusehen, wo zwei Bachstelzen auf dem Rand des Vogelbads wippten.
Eine Zeitlang hatte sie insgeheim gehofft, es werde ihr gelingen, ihn so zu verführen, daß er in seinem Begehren nach ihr alle Vorsicht vergessen - alle Kontrolle verlieren würde. Aber nichts - kein noch so leidenschaftliches Seufzen und Stöhnen, kein noch so erregtes Streicheln und Liebkosen - konnte Anthony davon abhalten, sich im kritischen Moment von ihr zu erheben, in der Nachttischschublade zu fummeln und sich diese verdammte Latexhülle überzustülpen, die Strafe dafür, daß sie in der Hitze einer fruchtlosen Auseinandersetzung damit gedroht hatte, ohne sein Wissen die Pille abzusetzen.
Er hatte ein Kind. Er wollte nicht noch eines. Er konnte Elena nicht noch einmal verraten. Er hatte sie verlassen. Er würde die Zurückweisung, die darin lag, nicht dadurch noch schlimmer machen, daß er ein zweites Kind in die Welt setzte, das Elena vielleicht als Rivalin um die Liebe des Vaters ansehen, von dem sie sich vielleicht verdrängt fühlen würde. Außerdem hatte er Angst, sie könnte glauben, es ginge ihm einzig darum, seine narzißtischen Bedürfnisse zu stillen, indem er ein Kind zeugte, das hören konnte.
Sie hatten das alles vor der Heirat besprochen. Er war von Beginn an aufrichtig gewesen. Er hatte ihr gesagt, daß Kinder in Anbetracht seines Alters und seiner Verantwortung Elena gegenüber nicht in Frage kämen. Sie war damals fünfundzwanzig gewesen und hatte am Anfang einer Karriere gestanden, die ihr wichtig war; an Kinder hatte sie nicht gedacht, nur ihr beruflicher Erfolg hatte sie interessiert.
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