05 - Denn bitter ist der Tod
schon.«
Sie führte ihn durch einen kurzen Korridor, an dessen Decke weißgestrichene Rohre entlangliefen. »Gareth sitzt schon fast den ganzen Tag hier. Es geht ihm nicht besonders gut.«
»Wegen des Mordes?«
»Er hatte eine Schwäche für Elena. Das wußten alle.«
»Haben Sie selbst Elena gekannt?«
»Nur vom Sehen. Die anderen...«, sie machte eine Handbewegung, die wohl die Mitglieder der VGS umfassen sollte, »haben ab und zu einen Dolmetscher in den Vorlesungen dabei, nur um ganz sicher zu sein, daß ihnen nichts Wichtiges entgeht. Das ist übrigens meine Funktion hier. Ich dolmetsche. Damit verdiene ich mir was dazu, um während des Semesters über die Runden zu kommen. Außerdem bekomme ich auf die Weise ganz interessante Vorlesungen mit. Letzte Woche habe ich bei einer von Stephen Hawking gedolmetscht. Das war vielleicht ein Ding. Astrophysik. Versuchen Sie mal, so was in Zeichen auszudrücken. Die reinste Fremdsprache.«
»Das kann ich mir vorstellen.« Lynley lächelte. Sie gefiel ihm. »Aber für Elena Weaver haben Sie nie gedolmetscht?«
»Nein. Ich glaube, sie wollte keinen Dolmetscher.«
»Weil sie den Eindruck erwecken wollte, daß sie hören konnte?«
»Das weniger«, sagte Bernadette. »Ich glaube, sie war stolz darauf, daß sie von den Lippen ablesen konnte. Das ist sehr schwer, besonders für jemanden, der gehörlos zur Welt gekommen ist. Meine Eltern - sie sind beide gehörlos, wissen Sie - haben nie viel mehr von den Lippen abzulesen gelernt als ›macht drei Pfund‹ und ›danke schönc. Aber Elena war echt erstaunlich.«
Sie öffnete die Tür zu einem Konferenzzimmer, das etwa die Größe eines Seminarraums hatte. Es enthielt wenig mehr als einen großen rechteckigen Tisch und mehrere Stühle. An dem Tisch saß, über ein Kollegheft gebeugt, ein junger Mann. Strähniges helles Haar fiel ihm über die breite Stirn in die Augen. Ab und zu hielt er beim Schreiben inne und kaute an den Fingernägeln der linken Hand.
»Moment«, sagte Bernadette und knipste ein paarmal das Licht an und aus. Gareth Randolph blickte auf. Langsam erhob er sich. Er schob dabei einen Haufen zerknüllter Papiertücher zusammen, die auf dem Tisch lagen, und drückte sie in seiner Hand zusammen. Er war ein hoch aufgeschossener junger Mann mit blassem Gesicht, dessen Haut von roten Aknenarben durchsetzt war. Er sagte kein Wort, und als Bernadette zu sprechen begann, unterbrach er sie mit einer brüsken Geste, da sein Blick bis zu diesem Moment auf Lynley geruht hatte.
Bernadette wiederholte. »Das ist Inspector Lynley.« Ihre Hände flatterten wie flinke, helle Vögel unter ihrem Gesicht. »Er möchte dich wegen Elena Weaver sprechen.«
Der Blick des jungen Mannes flog wieder zu Lynley. Er musterte ihn von oben bis unten. Dann antwortete er, und Bernadette übersetzte. »Nicht hier.«
»In Ordnung«, sagte Lynley. »Wo immer es ihm recht ist.«
Bernadette übertrug Lynleys Worte und fügte in Gebärden- und Lautsprache hinzu: »Sprechen Sie Gareth direkt an, Inspector. Alles andere ist ziemlich entwürdigend.«
Gareth las und lächelte. Er antwortete Bernadette mit flüssigen Bewegungen.
»Was hat er gesagt?«
»Danke, Bernie. Wir machen doch noch eine Gehörlose aus dir.«
Gareth führte sie aus dem Konferenzzimmer hinaus. Sie gingen durch den Korridor zurück in ein ungelüftetes, überheiztes Büro. Der Platz reichte gerade für einen Schreibtisch, ein paar Bücherregale an den Wänden, drei Plastikstühle und einen kleinen Tisch, auf dem ein Schreibtelefon stand.
Schon bei der ersten Frage wurde Lynley klar, daß er bei diesem Verhör im Nachteil sein würde. Da Gareth Bernadettes Hände beobachtete, um Lynleys Fragen verstehen zu können, würde sich keine Gelegenheit ergeben, irgend etwas in seinem Blick zu erkennen, sollte eine Frage ihn unvorbereitet treffen. Und da er alle Fragen lautlos beantwortete, gab es auch keine Möglichkeit, aus Stimme oder Tonfall etwas herauszulesen. Lynley war neugierig, ob und wie Gareth seinen Vorteil nutzen würde.
»Ich habe schon viel über Ihre Beziehung zu Elena Weaver gehört«, begann Lynley. »Dr. Cuff vom St. Stephen's College hat Sie beide zusammengebracht, nicht wahr?«
»In ihrem Interesse«, antwortete Gareth wiederum mit brüsken, scharfen Bewegungen. »Um ihr zu helfen.«
»Durch VGS?«
»Elena war nicht gehörlos. Das war das Problem. Sie hätte es sein können, aber sie war es nicht. - Sie haben es nicht zugelassen.«
Lynley runzelte
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