05 - Der Kardinal im Kreml
noch je ein halbes Magazin. Zwei waren Handgranaten, die der Feind ins Gebäude geworfen hatte, zum Opfer gefallen. Der Oberst hatte mit ansehen müssen, wie sich ein Schütze über eine Granate warf, um seine Kameraden zu schützen; er wurde zerrissen. Das Blut des Jungen bedeckte die Fliesen wie nasse Farbe. An der Tür lagen übereinander die Leichen von sechs Afghanen. Wie weit war das motorisierte Regiment noch entfernt? Eine Stunde, das war nur eine kurze Zeitspanne - ein halber Film, eine Fernsehsendung, ein angenehmer Abendspaziergang, aber eine Ewigkeit, wenn auf einen geschossen wurde. Jede Sekunde schien sich endlos hinzuziehen, der Sekundenzeiger stand auf der Stelle, und schnell ging nur das Herz. Einen Nahkampf erlebte er erst zum zweiten Mal. Nach dem ersten hatte er einen Orden bekommen; sollte auf den zweiten sein Begräbnis folgen? Das durfte er nicht zulassen. In den Stockwerken über ihm befanden sich Hunderte von Menschen - Ingenieure, Wissenschaftler, ihre Frauen und Kinder - deren Leben von seiner Fähigkeit abhing, die afghanischen Angreifer nur eine knappe Stunde lang aufzuhalten.
Er hatte versagt. Seine Männer hatten ihn mit der Führung betraut, aber der Bogenschütze hatte sie im Stich gelassen. Rundum Leichen im Schnee; jede schien ihn anzuklagen. Er konnte einzelne Feinde töten und Flugzeuge vom Himmel holen, aber große Verbände hatte er nie führen gelernt. Lastete Allahs Fluch auf ihm, weil er russische Flieger gefoltert hatte? Nein! Noch gab es Feinde, die getötet werden mußten. Mit einem Wink befahl er seinen Männern, durch zerbrochene Fenster ins Erdgeschoß zu dringen.
Der Major führte an der Spitze, wie es die mudschaheddin erwarteten. Zehn hatte er an den Bunker herangebracht und unter dem Schutz des Sperrfeuers den Rest seiner Kompanie an die Wand dicht beim Haupteingang geführt. Es klappt alles, dachte er. Fünf Mann hatte er verloren, aber für eine solche Operation war das nicht viel. In Gedanken bedankte er sich bei den Russen für die gründliche Ausbildung.
Der Haupteingang hatte eine Stahltür, an deren beiden unteren Ecken er Sprengladungen anbrachte. Russisches Gewehrfeuer fegte ihm über den Kopf, aber die Bunkerinsassen wußten nicht, wo er war. Er machte die Ladung scharf, zog an der Zündleine und rannte um die Ecke. Pokryschkin fuhr zusammen, als es geschah, fuhr herum und sah die schwere Stahltür durch den Raum fliegen und gegen ein Steuerpult prallen. Der KGB-Leutnant wurde von der Druckwelle auf der Stelle getötet, und als Pokryschkins Männer losstürmten, um die Bresche in der Wand zu halten, kamen drei weitere Sprengsätze hereingeflogen. Eine Fluchtmöglichkeit gab es nicht. Die KGB-Truppen feuerten weiter und erschossen einen der Angreifer in der Tür, doch dann gingen die Ladungen los.
Ein seltsam hohler Knall, dachte der Major. Der Explosionsdruck wurde von den dicken Betonmauern zurückgehalten. Eine Minute später stürmte er seinen Männern voraus hinein. Elektrische Anlagen schlugen Funken, bald mußten Brände ausbrechen, aber soweit er sehen konnte, lagen alle Bunkerinsassen am Boden. Rasch gingen seine Männer von einem zum anderen, griffen sich die Waffen und erschossen jene, die nur bewußtlos waren. Der Major sah einen russischen Offizier mit Generalssternen. Der Mann blutete aus Nase und Ohren und versuchte eine Pistole zu heben, als der Major ihn niederschoß. Nach einer Minute waren alle tot. Das Gebäude füllte sich rasch mit dickem, beißendem Rauch. Er beorderte seine Männer nach draußen.
«Wir sind hier fertig», sagte er in sein Funkgerät. Keine Antwort. «Sind Sie noch da?»
Der Bogenschütze stand neben einer halboffenen Tür an der Wand. Sein Funkgerät war ausgeschaltet. Direkt vor dem Zimmer, in dem er sich befand, stand ein Soldat und schaute den Korridor entlang. Es war soweit. Der Guerilla stieß mit dem Gewehrlauf die Tür auf und erschoß den Russen, ehe der sich umdrehen konnte. Dann brüllte er einen Befehl, und fünf Mann stürmten aus Zimmern hervor, aber zwei fielen, ehe sie einen Schuß abgeben konnten. Links und rechts im Korridor sah er nur Mündungsblitze und halbverborgene Silhouetten.
Fünfzig Meter weiter reagierte Bondarenko auf die neue Bedrohung. Er befahl seinen Männern, in Deckung zu bleiben, und identifizierte und beschoß dann im Schein der Notbeleuchtung mit mörderischer Präzision die Eindringlinge. Der Korridor glich nun einem Schießstand; mit zwei Feuerstößen erwischte er zwei
Weitere Kostenlose Bücher