05 - Der Schatz im Silbersee
rief er dem Roten zu.
„Uff, uff, uff!“ ertönte es im Kreis. Der Häuptling antwortete nicht sogleich. Er blickte von dem Jäger auf den Stein und von diesem wieder zu dem ersteren zurück; er war mehr als überrascht und ließ erst nach einer Weile seine Stimme hören: „Meinst du, daß du mich zum Fürchten bringst? Denke das ja nicht! Ich werde dich töten und dir den Skalp nehmen, und wenn der Kampf bis zum heutigen Abend währen sollte!“
„Er wird nicht so lange dauern, sondern in wenigen Minuten beendet sein“, antwortete Old Shatterhand lächelnd. „Also meinen Skalp willst du mir nehmen?“
„Ja, denn die Kopfhaut des Besiegten gehört dem Sieger. Bindet uns an!“
Dieser Befehl wurde an zwei bereitstehende Rote gerichtet, welche dem Häuptling und Old Shatterhand die Lassos um die Hüften banden und dann zurücktraten. Auf diese Weise an den Pfahl befestigt, konnten sich die beiden nun nur innerhalb eines Kreises bewegen, dessen Halbmesser die Länge des noch freien Lassoteils betrug. Sie standen so, daß die beiden Lassos eine gerade Linie, also den Durchmesser bildeten, der eine mit dem Gesicht dem Rücken des andern zugekehrt. Der Rote hatte den Tomahawk in der rechten und das Messer in der linken, Old Shatterhand nur das Messer in der rechten Faust.
Der ‚Große Wolf‘ hatte sich den Kampf wohl in der Weise gedacht, daß einer den andern im Kreis herumtreiben und so nahe an ihn zu kommen versuchen werde, daß die Möglichkeit eines sichern Hiebes oder Stiches gegeben sei. Er hatte wohl einsehen müssen, daß er seinem Gegner an Stärke nicht überlegen sei; aber die Waffen waren ungleich, und er hegte die vollständige Überzeugung, daß er siegen werde, zumal nach seiner Ansicht der Weiße das Messer ganz falsch gefaßt hielt. Old Shatterhand hatte das Messer nämlich so in der Hand, daß die Klinge nicht ab-, sondern aufwärts gerichtet war; es war ihm also unmöglich, einen Stich von oben herab auszuführen. Der Rote lachte im stillen darüber und nahm seinen Gegner scharf in das Auge, damit ihm keine Bewegung desselben entgehen könne.
Auch der Weiße hielt den Blick fest auf ihn gerichtet. Er hatte keineswegs die Absicht, sich im Kreis umher jagen zu lassen; er wollte nicht angreifen, sondern den Angriff erwarten, und dieser Zusammenstoß sollte sofort entscheiden. Es kam ganz nur darauf an, in welcher Weise der ‚Große Wolf‘ sich seines Tomahawks bedienen werde; gebrauchte er ihn in fester Hand, so war nichts zu befürchten; wendete er ihn aber schleudernd, also im Wurf an, so galt es, die größte Aufmerksamkeit und Vorsicht zu entwickeln. Die beiden standen nicht so weit entfernt voneinander, daß es leicht war, einem solchen Wurf auszuweichen.
Glücklicherweise dachte der Häuptling gar nicht daran, das Beil zu werfen. Wenn er nicht traf, so war es aus seiner Hand, und er konnte es nicht wieder bekommen.
So standen sie fünf Minuten, zehn Minuten, und keiner bewegte sich vorwärts. Schon ließen die roten Zuschauer Ausrufe der Anfeuerung oder gar Mißbilligung hören. Der ‚Große Wolf‘ forderte seinen Gegner höhnisch auf, zu beginnen; er rief ihm Beleidigungen zu. Old Shatterhand sagte nichts; seine Antwort bestand darin, daß er sich niedersetzte und eine so ruhige und unbefangene Haltung annahm, als ob er sich in der friedlichsten Gesellschaft befinde. Aber seine Muskeln und Sehnen waren bereit, sofort in die schnellste und kräftigste Aktion zu treten.
Der Häuptling nahm dieses Verhalten als einen Ausdruck der Geringschätzung, also als Beleidigung auf, während es doch nichts als eine Kriegslist war, welche ihn zur Unvorsichtigkeit reizen sollte. Sie erreichte diesen Zweck vollständig. Er glaubte, mit einem sitzenden Feind leichter fertig werden zu können und diesen Umstand schnell benutzen zu müssen. Einen lauten Kriegsruf ausstoßend, sprang er auf Old Shatterhand ein, den Tomahawk zum tödlichen Hieb erhoben. Schon glaubten die Roten, diesen Hieb sitzen zu sehen; schon öffneten sich viele Lippen zum Jubelgeschrei, da schnellte der Weiße seitwärts empor – das mit Absicht verkehrt gehaltene Messer tat seine Schuldigkeit; der Hieb ging fehl; die niedersausende Faust fuhr in die blitzschnell emporgehaltene Klinge, so daß sie das Kriegsbeil fallen ließ; ein rascher Hieb Old Shatterhands gegen den linken Arm des Roten, und diesem flog auch das Messer aus der Hand, und dann schlug der Weiße seinem Gegner mit einem fast unsichtbar schnellen Hieb den
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