051 - Duell mit den Ratten
anders gekleidet, und ihr Haar fiel offen über ihre Schultern. Coco stellte fest, daß sie schönes Haar besaß. Sie hatte auch etwas Make-up aufgetragen und die Lippen nachgezogen und wirkte plötzlich hübsch und anziehend. Außerdem war sie weniger angriffslustig als sonst und schweigsamer.
»Hat von Ihnen schon einmal jemand das Gefühl gehabt, daß seine letzte Stunde geschlagen hat?« fragte sie, ohne sich an jemanden direkt zu wenden. Es war das erste Mal, daß sie an diesem Abend sprach. Mit entrückter Stimme fuhr sie fort: »Ich spreche nicht von Todesahnungen. Diese empfinde ich nämlich nicht. Dennoch ist mir, als würde ich bald ein denkwürdiges Erlebnis haben. Was danach kommt, ist mir egal. Es zählen nur die kommenden Stunden. Danach kann ich sterben oder ins Kloster gehen. Es berührt mich nicht. Ich habe noch nie solche Melancholie empfunden, seit mich die Kerle in der Gosse haben liegen lassen.«
Miß Whitley hatte zuvor noch nie über ihre Vergewaltigung gesprochen, und jetzt tat sie es völlig sensationslos. Allen wurde klar, daß eine Veränderung mit ihr vorgegangen war, aber nur Benjamin Flindt sprach es aus.
»Sie sind schön, Miß Whitley«, sagte der gealterte Chemieprofessor. »Sie sollten Ihr Haar immer offen tragen. Was hat Sie dazu veranlaßt, die Mauern niederzureißen, hinter denen Sie sich verschanzt hatten? Ich habe es erlebt, daß Frauen durch die Liebe aufgeblüht sind, aber bei Ihnen kann ich mir das nicht vorstellen – mit Verlaub gesagt.«
»Ich sagte schon, daß ich heute Abend so melancholisch bin …«
»Haben Sie vor, einem Mann den Kopf zu verdrehen, Miß Whitley?« fragte Mortimer Wisdom anzüglich.
Normalerweise wäre sie ihm wegen dieser Bemerkung über den Mund gefahren, aber heute reagierte sie ganz anders: sie lächelte. Coco hörte nicht mehr, was sie entgegnete, denn Mike Lundsdale wandte sich an sie und flüsterte ihr ins Ohr: »Habe ich Ihnen schon gesagt, daß Sie mich an Judy erinnern, Claudia?«
Coco schüttelte den Kopf. »Haben Sie sie sehr geliebt?«
»Über alles«, gestand Mike und ließ Coco dabei nicht aus den Augen. »Aber Sie könnten sie mich vergessen lassen, Claudia.«
Sie zog schnell ihre Hand zurück, als er danach greifen wollte.
»Entschuldigen Sie mich«, sagte sie und erhob sich, froh, endlich der seltsamen Atmosphäre des Speisesaals entfliehen zu können. Es schien fast so, als seien alle in dem alten Schloß verrückt geworden – sie eingeschlossen. Denn sie merkte auch an sich, daß eine Veränderung mit ihr vorgegangen war.
Fremde, unheimliche Mächte griffen nach ihrem Gehirn und beeinflußten sie. Es waren Kräfte der schwarzen Magie. Coco konnte sie leicht sondieren. Und sie hätte sich auch gegen die Beeinflussung wehren können, denn sie besaß immer noch schwache magische Fähigkeiten. Aber sie lehnte sich nicht auf, um sich nicht zu verraten. Solange es nicht zu einem Exzeß ausartete, würde sie das Spiel mitmachen. Sie wollte sofort auf ihr Zimmer. Vielleicht war Don bereits eingetroffen und erwartete sie. Dorian hatte versprochen, den Puppenmann so schnell wie möglich zu ihr zu schicken. Warum war er nicht schon längst da? Auf dem Weg zu ihrem Zimmer mußte Coco am Speisesaal der Zöglinge vorbei. Schon von weitem hörte sie, daß dort ausgelassene Stimmung herrschte. Als sie an der offenstehenden Tür vorbeikam, sah sie Miß Doyle mit den vier Dämonenkindern an einem Tisch sitzen. Sie lachten alle fünf gerade schallend. Miß Doyle hatte die Beine fast unzüchtig gespreizt, die Hände im Schoß liegen und den Kopf weit nach hinten gebeugt.
Coco ging schnell an der Tür vorbei, um nicht entdeckt zu werden.
In ihrem Zimmer angekommen, stellte sie fest, daß Don immer noch nicht eingetroffen war. Jetzt wurde sie unruhig. Zum ersten mal kam ihr der Gedanke, daß ihm etwas zugestoßen sein könnte.
Sie überlegte sich, ob es nicht das klügste war, einfach in der Jugendstil-Villa anzurufen und sich nach dem Verbleib des Puppenmannes zu erkundigen, aber dann entschloß sie sich, noch etwas zu warten.
Die fremde Macht, die nach ihrem Gehirn griff und ihr ihren Willen aufzwingen wollte, wurde stärker. Sie hörte wieder die Stimmen, die von überall auf sie eindrangen. In den Winkeln und Ecken, wohin das Licht der Deckenlampen nicht fiel, schienen sich gespenstische Schatten zu regen.
Coco rannte zum Fenster und beugte sich weit hinaus. Sie hoffte, Don zu erblicken, wie er über die Mauervorsprünge nach oben,
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