051 - Duell mit den Ratten
Körpers zu verhelfen und Männer aus ihnen zu machen. Mit Joey habe ich leider meine liebe Not. Er ist so zart und schwach und kränkelt dauernd. Aber damit will ich Sie nicht jetzt schon belasten. Darf ich wissen, weswegen Sie gekommen sind?«
»Darüber werden wir mit der Direktorin sprechen«, sagte Mr. Blair knapp.
»Ah, verstehe. Bitte, wenn Sie mir folgen wollen!«
Die Korridore und Räume waren so düster und deprimierend wie das graue Gemäuer des Schlosses. Um so überraschter war Mr. Blair, als er mit seiner Frau ins Direktionsbüro kam. Nicht daß die Einrichtung moderner, freundlicher und weniger veraltet als die übrige Einrichtung gewesen wäre; nein, aber die Direktorin, Mrs. Irene Reuchlin, war eine angenehme Überraschung. Er hatte sich eine alte, bissige und keifende Matrone vorgestellt und sah sich einer außergewöhnlich schönen Frau gegenüber, und das verschlug ihm schier den Atem. Sie schien seine Gedanken genau zu kennen, denn ihre grünen Augen blitzten vor Spott und ihren Mund umspielte ein maliziöses Lächeln. Mrs. Reuchlin brachte nach der Begrüßung die Sprache sofort auf Joey. Sie fragte nicht nach dem Grund ihres Besuches, sondern schien ganz selbstverständlich anzunehmen, daß sie nur gekommen waren, um sich nach seinen Leistungen zu erkundigen und ganz allgemein ihr Urteil über ihn einzuholen.
Armand Blair hörte ihren Ausführungen nur mit halbem Ohr zu. Er suchte unablässig nach einer Gelegenheit, ihr den wahren Grund ihres Kommens vorzutragen. Aber das war auch insofern schwierig, weil er nicht recht wußte, wie er beginnen sollte. Er konnte der Direktorin nicht einfach sagen, daß man ihm zugetragen hätte, Joey würde gequält und mißhandelt. Was, wenn sie Sekretärin sich alles aus den Fingern gesogen hatte? Was er übrigens immer noch hoffte.
Mrs. Reuchlin hatte eine tiefe, wohlklingende Stimme, die verführerisch einschmeichelnd und abweisend zugleich sein konnte. Man mußte dieser Stimme einfach lauschen, und Mr. Blair, der schon einige Male zu einer Entgegnung oder einem Einwand angesetzt hatte, schluckte seine Bemerkungen immer wieder hinunter.
Als Mrs. Reuchlin endlich eine längere Pause machte, platzte Mary Blair heraus: »Eigentlich sind wir gekommen, um Joey zu sehen.«
Mrs. Reuchlin hob erstaunt eine Braue.
»Ich fürchte, das wird nicht gehen«, sagte sie mit sanftem Tadel. »Hat das Sekretariat es etwa versäumt, Ihnen unsere Hausordnung zuzuschicken? Daraus könnten Sie nämlich ersehen, daß Besuche von Eltern und näheren Verwandten nur sonntags gestattet sind. Sie verstehen das sicherlich, davon bin ich überzeugt. Wir erziehen unsere Zöglinge nach strengen Regeln. Wir legen auf Disziplin und Ordnung größten Wert, können aber mit unseren bewährten Erziehungsmethoden nur erfolgreich sein, wenn wir selbst mit gutem Beispiel vorangehen.«
»Das verstehe ich vollkommen«, erwiderte Mr. Blair. »Aber ist es nicht möglich, daß Sie dieses eine Mal eine Ausnahme machen, wo wir doch schon einmal hier sind?«
Mrs. Reuchlin lächelte. »Wir sind nicht weiter als vierzig Meilen von der Londoner Stadtgrenze entfernt. Ist es da wirklich zuviel verlangt, Sie zu einem geeigneteren Termin nochmals herzubitten? Sagen wir, kommendes Wochenende?«
»Mein Mann hat nur selten frei«, wandte Mrs. Blair ein. »Er kann sich seine Zeit nicht immer so einteilen, wie er will. Es hat sich gerade heute so ergeben …« Mrs. Blair verstummte, als ihr Mann sich räusperte.
»Ich finde es einfach lächerlich, wegen einer Lappalie so ein Theater zu machen«, meinte er ärgerlich. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß es so schwerwiegende Folgen haben könnte, wenn Sie es Joey gestatten, uns kurz zu sehen. Oder haben Sie andere Gründe, uns unseren Sohn vorzuenthalten?«
»Wie darf ich das verstehen?« fragte Mrs. Reuchlin mit eisiger Stimme. Mr. Blair schnaubte wütend: »Fassen Sie es auf, wie Sie wollen! Ich streite mich nicht länger mit Ihnen, sondern verlange, daß Sie mich Joey sehen lassen. Das ist schließlich mein gutes Recht als Vater.«
Mrs. Reuchlin nickte leicht. »Wenn Sie darauf bestehen, dann muß ich Ihnen Ihren Willen lassen – wenn auch unter Protest.« Ihre Stimme klang noch kalt und ablehnend, im nächsten Moment war sie jedoch wieder sanft und zuvorkommend, wenngleich ein spöttischer Unterton mitschwang.
»Ich habe geahnt, daß Sie hartnäckig sein würden und vernünftigen Argumenten nicht zugänglich«, fuhr sie fort. »Deshalb
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