0512 - Der lachende Tod
kreuzte ihr Blick den des Knochenmannes, und auf unglaubliche Weise glaubte sie in seinem knöchernen Gesicht so etwas wie eine Aufforderung zu sehen.
Eine Aufforderung wozu?
Die Vampirin verließ jetzt ihre Ruhestätte. Ihre Füße schienen den Boden nicht zu berühren, oder doch? Als gleite sie über den glattgeschliffenen Fels, näherte sie sich Nicole. Unwillkürlich wich die Französin zurück. Sie war unbewaffnet und damit wehrlos! Probeweise formte Nicole mit den Armen ein Kreuz, aber Lamia reagierte nicht darauf. Natürlich nicht! Zu ihrer Zeit war dieses starke Symbol des Glaubens an das Gute als solches noch unbekannt gewesen!
Nicole wich weiter zurück.
»Da du von mir hörtest, wirst du wissen, was deiner nun harrt«, sagte Lamia mit unterschwelligem Fauchen. »Allerdings«, sie warf dem Knochenmann einen tadelnden Blick zu, »hätte ich es als angenehmer empfunden, wenn du mir einen hübschen Knaben anstelle dieses Weibes gebracht hättest, Charon!«
Charon?
Das war doch der Fährmann, der die Toten über den Styx ruderte, damit sie in den Hades gelangen konnten, die Unterwelt. Nur übernahm Charon diese Aufgabe erst, wenn er dafür bezahlt wurde. Deshalb pflegten die antiken Griechen ihren Toten als Grabbeigabe eine Münze auf die Zunge zu legen, die Charon dann herausklauben konnte.
Und jetzt stand dieser Charon der Lamia als Diener zur Verfügung und fuhr ihre Kutsche? Das paßte ebensowenig zusammen wie diese Kutsche und die griechische Mythologie an sich. Hier stimmte etwas nicht!
Außerdem hatte Charon sich Zamorra seinerzeit doch nicht in Gestalt eines Knochenmannes gezeigt! Nicole war zwar bei jenem Abenteuer in der Vergangenheit nicht mit von der Partie gewesen, aber Zamorra hatte ihr in allen Einzelheiten davon erzählt. [2]
Wieder nickte dieser Charon Nicole auffordernd zu, nur begriff sie nicht, wozu er sie auffordern wollte. Warum sagte er nichts?
Die Vampirin hatte den Blickwechsel bemerkt. Sie lachte spöttisch auf. »Ah, er möchte dir etwas sagen, Weib… aber Skelette können nicht zu den Sterblichen sprechen! So lange hat er warten müssen, daß er darüber selbst zum Skelett wurde… und er kann mich doch nicht in den Hades rudern, weil er nicht bezahlt wurde…«
Immer näher kam sie. Nicole spürte die Felswand hinter ihrem Rücken; sie konnte nicht weiter zurück. Sie sah an Lamia vorbei auf die am Boden liegende Münze. Lamia grinste spöttisch. »Ach, er kann sie nicht aus eigenem Willen berühren. An diesem Geld klebt Blut.«
»Und?«
Nicole wunderte sich, daß sie die Frage so knapp und scheinbar unbeteiligt hervorbrachte. Wieder lachte die Vampirin spöttisch. »Vor zwei Jahrtausenden, Weib, wurde ein Verräter mit dreißig Silbermünzen für seine Tat belohnt. Doch er wurde nicht froh damit und erhängte sich; die Münze, die du dort liegen siehst, Weib, gehört zu seinem Lohn. Doch Blutgeld kann Charon nicht nehmen. So mußte er viele Jahrhunderte darauf warten, mich übersetzen zu können… dieser Narr!«
Sie schüttelte sich, und jetzt erkannte Nicole, daß das Gewand der Urvampirin in Höhe ihres Herzens ein Loch besaß. War Lamia gepfählt worden?
»Du siehst richtig«, kicherte sie, als könne sie Nicoles Gedanken lesen, aber das schaffte nicht einmal Lucifuge Rofocale, solange Nicole ihre Abschirmung nicht bewußt öffnete. »Deshalb bin ich hier - in Charons Obhut, des Ungeduldigen! Ah, vielleicht wär’s gar nicht schlecht, würde er mich übersetzen, denn noch nie verweilte ich für lange Zeit im Hades, so oft man auch versuchte, mich zu töten… Der Tod ist mein Freund, Gefährtin Zamorras! Er sendet mich immer wieder in die Welt hinaus, um für ihn zu jagen.«
Nicole erstarrte. »Woher weißt du, wer ich bin?«
»Du bist nicht Zamorra selbst. Also mußt du seine Gefährtin sein… oder seine Dienerin.«
»Was weißt du von Zamorra?« stieß Nicole hervor und dachte an den Verdacht ihres Gefährten, daß man sie mit Ablenkungsmanövern voneinander trennen wollte. Wurde jeder von ihnen in eine Falle gelockt? Welcher teuflische Plan steckte dahinter?
»Jemand weckte mich und nannte mir seinen Namen. Da brach ich auf, um meine durstige Spur durch das Land zu ziehen. Doch nun haben wir genug geplaudert. Gib mir dein Blut.«
Nicole schüttelte den Kopf. »Nein«, murmelte sie entgeistert. »Niemals. Eher töte ich dich!«
»Du hast nicht verstanden«, erwiderte Lamia spöttisch. »Mich kann niemand töten. Also gib mir endlich dein Blut, ehe ich
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