0520 - Das blaue Einhorn
hier so kühl sein? Ich hasse dieses naßkalte Regenwinterwetter.«
Zamorra bugsierte sie langsam in Richtung Treppe, auf der Raffael immer noch fassungslos stand. Im gleichen Moment in dem Zamorra Nicole berührte, glaubte er so etwas wie Widerwillen zu spüren, der von seinem Amulett ausging. Er stutzte. Nicole entging seine Reaktion nicht. »Was ist?« wollte sie wissen.
Er zuckte mit den Schultern. »Nichts. Verlassen wir diese ungastliche Stätte.« Während sie die Treppe hinaufschritten und den Kleinen Salon betraten, der sich rasch auf annehmbare Temperatur bringen ließ, dachte er über diese Empfindung nach. Er glaubte sich zu erinnern, daß er diesen Widerwillen schon einmal gespürt hatte - in jenem Augenblick, in dem Nicole auf seinen Schultern materialisiert war, und dann noch einmal, als sie ihm auf die Beine geholfen hatte. Aber in der Aufregung war es ihm nicht bewußt geworden.
Er hakte das Amulett, das er bis jetzt in der Hand getragen hatte, an seiner silbernen Halskette ein, so daß es, wie üblich, vor seiner Brust hing wie ein überdimensionales Schmuckstück. Im kleinen Salon drehte er die Heizung auf. Nicole, die etwas fröstelte, rückte einen Sessel direkt neben den Heizkörper und streckte sich darin aus.
»Wie sieht es in dieser anderen Welt aus? Was ist dir aufgefallen, außer daß es Felsen gibt? Vielleicht finden wir dadurch Anhaltspunkte, auf welche Weise wir sie erreichen können. Vor allem, wie wir dieses Einhorn erreichen können. Ich halte es mehr denn je für die Schlüsselfigur des Ganzen.«
»Ich habe nicht viel gesehen«, erwiderte Nicole. »Es ging ja alles viel zu schnell. Als ich begriff, wo ich mich befand, war es auch schon wieder vorbei, und ich saß in deinem Nacken wie ein Kobold«, sie grinste frech, »statt auf dem Einhorn.«
»Warum bist du überhaupt aufgestiegen?« wollte er wissen. »Du bist doch sonst nicht so leichtsinnig.«
»Leichtsinnig?« wiederholte sie langsam, als müsse sie über den Sinn dieses Wortes erst nachdenken. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Ich weiß es selbst nicht. Ich bin nur einem Impuls gefolgt. Es war einfach erforderlich. Und überhaupt - dadurch wissen wir doch jetzt, daß es diese andere Welt gibt, daß der Traum mehr ist als nur ein Traum. Er ist ein Stück gespiegelte Wirklichkeit.«
Hast du’s gehört? klang die telepathische Stimme des Amuletts lautlos in Zamorras Bewußtsein auf.
Nicole runzelte die Stirn.
»Was gehört?« fragte Zamorra leise.
Aber das Amulett präzisierte seinen Hinweis nicht.
»Was hast du gesagt?« wollte statt dessen Nicole wissen.
Zamorra deutete mit dem Daumen auf Merlins Stern. »Die Blechscheibe gefiel sich wieder mal als moderne Ausgabe des Orakels von Delphi. - Wir müssen einen Weg finden, in diese andere Welt vorzustoßen. Du hast wirklich nicht registriert, wie der Übergang vonstatten ging?«
Nicole schüttelte den Kopf. »Vielleicht sollten wir darüber schlafen«, schlug sie vor. »Möglicherweise fällt mir im Traum etwas dazu ein. Jetzt jedenfalls bin ich ziemlich müde. Es wird bald hell draußen. Kommst du?«
Sie erhob sich und trat vor ihn. In ihren Augen erkannte er ein verdächtiges Funkeln, das ihm verriet, daß es mit ihrer Müdigkeit vielleicht doch nicht ganz so weit her war.
Aber so verführerisch sie auch vor ihm stand - im Augenblick stand ihm der Sinn nach anderem. Seine Gedanken kreisten um das Einhorn und die rätselhafte Teleportation in eine andere Welt.
Und er machte sich Sorgen um Nicole. Wie konnte sie nach einem solchen Ausflug nur ans Schlafen denken?
***
Raffael Bois sah hinter seinem Chef und der Mademoiselle her. Er war erleichtert, daß sie heil und unversehrt aus dem Nichts zurückgekommen war. Der alte Diener brachte den Strahler wieder zurück und bewaffnete sich statt dessen mit Besen, Kehrblech und Handschuhen, um die Glasscherben, Splitter und Splitterchen zusammenzukehren, bevor jemand hineintrat; außerdem sah der Glasbruch unschön aus. Vermutlich war es auch angebracht, die Türreste komplett aus den Angeln zu heben und wegzuwerfen und gleich in ein paar Stunden einen Glaserbetrieb mit der Erneuerung zu beauftragen. Schließlich konnte die Tür nicht tage- oder wochenlang offenstehen; es regnete ja schon jetzt herein. Auf dem glatten Parkettboden ging ihm die Arbeit relativ rasch von der Hand, aber als er die Kerben sah, die die Hufe des Einhorns in das Holz geschlagen hatten, hatte er Mühe, seinen Zorn zurückzuhalten.
Fast war er
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