0543 - Die Fliegen-Königin
Schwarzes kroch durch ihre Zähne und näherte sich der Unterlippe. Schwarz, dick und irgendwie fett.
Eine Fliege…
Sie tanzte für einen Moment auf der. Lippe, bewegte sich von links nach rechts, ohne wegzufliegen, bis die Zunge des Mädchens hervorschnellte und sie packte.
Die Fliege blieb auf ihr kleben und flog auch nicht weg, als Elvira die Zunge einrollte und den Mund schloß.
Mit einem Ruck fuhr Ross Grayson hoch. Dieser Traum, so wunderbar er begonnen hatte, hatte so schlimm geendet.
»Verdammte Fliegen!« schrie er, als er merkte, daß sie ihren Platz an der Decke verlassen hatten und auf seinem Gesicht hockten. Er schlug nach ihnen und konnte sie so vertreiben.
Naßgeschwitzt war er. Der Traum hatte ihn stärker mitgenommen, als er es zugeben wollte. Er schwang seinen Oberkörper herum und stand auf. Wieder führte ihn der Weg ins Bad, wo er sich den Schweiß unter den Strahlen der Dusche abspülte.
Wie kann man nur so etwas träumen? fragte er sich. Wie war das möglich?
Er trocknete sich ab und kam sich plötzlich vor, wie jemand, dem die Wohnung zu klein geworden war.
Auch er wollte nicht mehr in seinen vier Wänden bleiben. Ross mußte raus, andere Menschen sehen.
Er schaute auf die Uhr.
Der Abend war angebrochen, noch lag über der Stadt ein heller Sonnenschein. Diese Tage im Juni gehörten zu den längsten des Jahres, man mußte sie ausnutzen.
Er zog lockere Bierkleidung an, nahm aber die Dose mit, die ihm Elvira geschenkt hatte. Er wollte sie irgendwann im Laufe des Abends noch öffnen.
Grayson kannte sich in London aus. Er wußte, wo man hingehen und sich amüsieren konnte.
Ihm stand der Sinn nach einem kräftigen Bier. Im Westend gab es genug Kneipen, wo er einen Schluck nehmen konnte. Zudem saßen in dieser Jahreszeit die Gäste meist vor oder hinter den Lokalen in kleinen Biergärten.
Das Westend kochte zwar nicht über, aber es herrschte ein unwahrscheinlicher Trubel. Irgendwo einen Platz zu bekommen, glich schon mehr einem Glücksspiel.
In einem kleinen Pup, vor dem vier Tische standen, die zudem noch von Bäumen beschattet wurden, sah er einen Tisch, an dem nur ein Mann saß. Der Mann kam ihm bekannt vor. Er war ziemlich groß, das konnte Grayson auch im Sitzen feststellen. Privat hatte er mit dem Blonden nichts zu tun gehabt, wohl aber beruflich.
Plötzlich fiel ihm der Name wieder ein. Klar, das war er, das mußte er einfach sein.
Grayson ging auf den Tisch zu.
Der Mann schaute auf.
»Ist hier noch ein Platz frei, Mr. Sinclair…«
***
Auch mir war der suchende Blick des neuen Gastes aufgefallen.
Wenn man Polizist ist, wie ich, gewöhnt, man es sich eben an, die Augen offenzuhalten, selbst auf einer privaten Tour.
»Natürlich, bitte.«
»Danke.« Grayson setzte sich und schaute mich an.
»Sie kennen mich?«
»Ja, Mr. Sinclair.«
Ich überlegte. »Bekannt kommt mir Ihr Gesicht vor, ich weiß nur nicht, wo ich Sie hinstecken soll!«
»Ganz entfernt sind wir Kollegen. Ich arbeite für die London Insurance, als Detektiv.«
»Die Versicherung?«
»Richtig.«
»Klar, ich erinnere mich. Wir hatten mal miteinander zu tun. Muß schon einige Zeit zurückliegen.«
»Da haben Sie recht. Nur sind Sie mir wegen Ihres außergewöhnlichen Jobs in Erinnerung geblieben. Immer noch auf Geisterjagd?«
Ich lächelte. »So kann man es nennen.«
Die Bedienung kam. Es war eine ältere Frau, die sehr schwitzte, weil sie hart arbeiten mußte. Der Detektiv bestellte ein Bier und lud mich gleich mit ein.
Ich hatte die Zeit über nach seinem Namen gegrübelt. Er war mir nicht eingefallen. Schließlich fragte ich ihn.
»Ich heiße Ross Grayson, sagt Ihnen nichts mehr – oder?«
»Wenn ich ehrlich sein soll, nein. Mir kommen so viele Namen unter, daß ich mir viele überhaupt nicht merken kann. Die Zeit ist ebenso schnellebig wie meine Fälle.«
»Ist verständlich.« Grayson griff nach seinem Glas, in dem das dunkle Bier schwamm. »Dann cheers, Mr. Sinclair.«
»Danke für den Schluck.«
Es war mein zweites Bier. An diesem lauen Abend hatte ich keine Lust gehabt, in der Wohnung zu bleiben. Mir lag noch der letzte Fall in den Knochen, der mich zusammen mit Suko, Wladimir Golenkow und Mark Baxter nach Bhutan geführt hatte, wo wir das Himalaya-Grauen erleben mußten. [1] Ich wollte mir eben nur ein paar Stunden Ruhe gönnen und ein Bierchen trinken. Irgendwie muß man Mensch sein.
Ein gezischter Fluch meines Gegenübers riß mich aus meinen Gedanken. Ich schaute hin und sah, wie
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