0543 - Die Fliegen-Königin
Boden riß.
In einer Wolke von Fliegen schlug er auf. Die auf dem Hochsitz stehende Elvira vernahm einen Laut, der sich schlimm anhörte, doch sie nickte nur. Dann pfiff sie wieder.
Die leise Melodie wehte vom Hochsitz herab in den Wald. Sie war nicht für die Ohren eines Menschen bestimmt, die Fliegen hörten sie, und sie gehorchten.
Hatten sie sich bisher in der Nähe des Bodens aufgehalten, so Schwarmten sie nun in die Höhe und tauchten hinein in den Hochwald. Einige von ihnen umschwirrten noch den Kopf des Mädchens, dessen Lippen sich zu einem Lächeln verzogen hatten.
»Ihr wart gut«, sagte Elvira. »Ihr wart wirklich gut.« Sie bewegte die Finger der rechten Hand, als wollte sie damit die kleinen Körper streicheln.
Dann machte sie sich auf den Weg. Elvira stieg sehr vorsichtig die Stufen der Leiter hinab. An den Rändern hielt sie sich fest, begleitet wurde ihr Weg von einigen Fliegen, als wollten sie das Mädchen beschützen.
Sicher stand Elvira wenig später auf dem weichen Boden. Zwei Schritte ging sie vor, um ihr Ziel zu erreichen.
Es war Marco!
Er lag in einer ungewöhnlichen Haltung dicht neben dem dicken Stamm eines Laubbaums. Beim Fall war er mit dem Kopf dagegen geschlagen. Elvira schaute nach, ob der Junge aus der Disco noch am Leben war.
Er war es nicht. Das Gesicht noch vom Schrecken gezeichnet, die Augen verdreht und starr, so lag er da.
Fliegen krabbelten über seine Haut.
»Dein Pech, Marco«, sagte das Mädchen. »Du hättest wirklich auf mich hören sollen. So wie dir wird es jedem ergehen, der sich zu weit vorwagt. Jedem. Meine Freunde lassen mich nicht im Stich.«
Sie warf die langen, schwarzen Haare zurück und ging in den Wald.
Vom Aussehen her ähnelte Elvira etwas der Märchenfigur Schneewittchen. Nur war dieses Mädchen nicht so grausam wie sie…
***
Am anderen Tag wurde Marco von Wanderern gefunden. Dem Ehepaar war der Schreck tief in die Knochen gefahren. Nach ihrer grausigen Entdeckung waren sie sofort in den Ort gelaufen und hatten die Polizei alarmiert.
Für die untersuchenden Beamten kam als Todesursache nur eine in Frage. Ein Unfall.
Marco war auf den Hochsitz geklettert und hatte beim Hinuntersteigen die Balance verloren. Tragisch, aber nicht zu ändern. Auf die Idee, weitere Nachforschungen anzustellen, kamen die Beamten nicht. Zwar meldete sich jemand, der Marco und Elvira zusammen hatte wegfahren sehen, Elvira wurde dann auch befragt, sie aber gab zu Protokoll, daß Marco sie nahe ihres elterlichen Hauses abgesetzt hatte.
Damit war für die Polizei die Sache erledigt.
Vier Tage später wurde Marco beigesetzt. Der junge Mann hatte eine sehr große Beerdigung bekommen. Er war im Ort bekannt.
Denn hier kannte jeder noch jeden.
Auch Elvira Klein ging mit. Sie gehörte zu denen, die in den ersten Reihen standen, als der Sarg in die Erde hinabgelassen wurde. Es war ein trüber Tag. Die Wolken sahen tonnenschwer aus, sie drückten bleiern gegen die Hänge und die steinernen Bergflanken. Hin und wieder nieselte es. Eine Tatsache war an dieser Beerdigung ungewöhnlich.
Sehr viele Fliegen umtanzten die Trauergäste. Sie waren lästig und aggressiv.
Als die Träger den Sarg ins Grab hinabsenkten formierten sich die Fliegen zu einem Schwarm, fanden auf dem Deckel ihren Platz und stiegen erst auf, als Marcos Eltern schaufelweise den Lehm in das Grab warfen.
Niemand interessierte sich für Elvira Klein. Aus diesem Grunde bemerkte auch keiner der Trauergäste ihr Lächeln…
***
Einige Jahre später!
Auf dem Flughafen Heathrow stieg ein Mann aus der Maschine, schritt die Gangway hinab und atmete seit drei Wochen zum erstenmal wieder Londoner Luft.
Sie schmeckte ihm nicht besonders. Er war die herrliche saubere Bergluft gewohnt gewesen, doch nun hatte ihn der Mief wieder.
Drei Wochen Urlaub lagen hinter ihm. 21 Tage der Entspannung, der Wanderungen, der Flirts, eine wunderbare Zeit, die er nicht mehr missen wollte.
Vor allen Dingen nicht wegen einer jungen Frau mit dem Namen Elvira Klein.
Sie hatte Ross Grayson fasziniert. Sie war einfach anders gewesen als die Engländerinnen, sehr natürlich und von einer Hingabe, für die er keine Worte fand.
Sie hatten sich geliebt, wo immer sich die Gelegenheit ergab. Im Bett, im Heu auf der Alm und versteckt unter den dichten Zweigen der Nadelbäume.
Dabei war alles so unkompliziert gewesen. Jeder von ihnen wußte genau, daß er keine feste Bindung eingehen wollte. Ein Urlaubsflirt zuerst, der nach wenigen Tagen
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