0556 - Milenas Opferstätte
sich, die Mündung zielte auf mich. In seinen Augen loderte ein Versprechen.
Der Tod!
Da griff Grealy ein, auf den niemand geachtet hatte. Mit einer heftigen Bewegung riß er Tom die Beretta aus der Hand und richtete, als sich der junge Mann umdrehte, die Mündung auf seinen Kopf.
»Ruhig, Tom, ganz ruhig. Das ist kein Spielzeug für dich. Verstehst du?«
Tom blieb ruhig, doch er erstickte fast an seiner Wut. »Ich will dir etwas sagen, Alter. Du kannst uns hier nicht in die Quere kommen, verstanden?«
»Ich will dich nur vor einer riesengroßen Dummheit bewahren. Laß Hank in die Urne sehen.«
Der Angesprochene war einverstanden. Zum erstenmal griff Cockney ein. Er drückte Tom zurück und flüsterte auf ihn ein. Schließlich gab Tom nach. Er hockte sich auf den Boden wie ein böser Junge, der für seine Taten bestraft worden war.
Hank kümmerte sich um die Urne. Ich hatte sie auf ein ausgefahrenes Schubbrett gestellt. Er war ein wenig unsicher, als er auf das Gefäß schaute.
Grealy nickte mir zuerst zu, dann stellte er sich neben mich. Ich hockte auf der Pritsche. Um sie weicher zu machen, waren Decken darauf gelegt worden.
»Tut mir leid, Sir, aber ich konnte nichts machen. Tom ist gewalttätig. Er überblickt die Lage nicht.«
»Das sollte er lernen. Es kann gefährlich sein, wenn man zu emotional handelt.«
»Sag ihm das.«
Hank hielt die Urne zwischen seinen Handflächen fest. Den Deckel hatte er abgenommen, aber er traute sich noch nicht, in das Gefäß zu schauen, sondern hielt den Kopf gedreht.
Ich fand eine Lücke, durch die ich sehen konnte. Es war still geworden. Jeder von uns wartete auf den entscheidenden Augenblick, wo der Mann in die Urne schaute.
»Mach es!« sagte Cockney. Seine rechte Hand lag auf der Hutkrempe, als wäre sie dort festgeleimt.
Hank ging zum Licht. Seine Bewegungen erinnerten mich an die eines Delinquenten, der seinen letzten Gang zum Henker antritt.
Plötzlich blieb er stehen. Der Lichtschein einer Lampe drang durch die Öffnung und mußte auch den Boden der nicht allzu großen Urne erreichen.
Hank starrte hinein – und zuckte zurück.
»Nein, verdammt!« keuchte er. »Das ist…«
Sehr langsam drehte sich Hank zu uns um. »Das ist Milenas Gesicht, das sind ihre Augen.« Er wechselte das Gefäß in die linke Hand und deutete mit der anderen auf mich. »Er… er und sein Blut haben dafür gesorgt. Jetzt ist sie wieder unter uns …«
***
Die Worte hatten auch mich hart getroffen. Sie waren ein Vorwurf, eine Anklage gewesen. Ich schwieg ebenso wie die anderen Männer in dem Wohnmobil.
Neben mir bewegte sich Grealy schabend über die Decke. »Verdammt!« flüsterte er. »Das hättest du nicht tun sollen. Jetzt ist der laute Fluch wieder aufgeflammt. Bisher haben wir die Blutsauger abwehren können. Ob wir es noch einmal schaffen, ist fraglich. Milena ist stark, so verflucht stark, und sie hat die entsprechenden Helfer, Sir.«
»Was hätte ich denn machen sollen?«
»Dich heraushalten.«
»Es ist mein Job.«
Er hob nur die Schultern, dafür übernahm Hank das Wort, nachdem er den Deckel wieder auf die Urne gesetzt hatte. »Ich habe Tom vorhin nicht glauben wollen«, flüsterte er mir zu. »Allmählich aber denke ich daran, daß er recht hat. Sinclair, du bist ein Verräter. Wer, zum Teufel, hat dich geschickt? War es Milena?«
»Nein!«
»Niemand kann dir glauben.«
»Bin ich etwa ein Vampir?« fuhr ich ihn an. »Will ich euer Blut?«
Er verengte seine Augen. »Nicht alle, die auf Milenas Seite stehen, sind Vampire. Sie regiert von ihrer Opferstätte aus, sie ist etwas Besonderes, das hat sie uns hier in Talley oft genug bewiesen. Wir kennen sie, du brauchst uns nichts zu sagen.«
»Was tat sie?«
»Schau dir den Ort an, dann weißt du es!«
Tom lachte kreischend auf. »Dazu wird es nicht kommen«, sagte er hart. »Nein, verflucht. Ich will ihn nicht in Talley sehen. Er ist ein dreckiger Verräter.«
»Der mir das Leben gerettet hat«, meldete sich Grealy.
»Alles nur Schau.«
»Was machen wir mit ihm?« fragte der schweigsame Cockney.
»Umlegen und verscharren!« knirschte Tom.
»Halt dein Maul, Junge.« Grealy stand auf. »Man sollte dich zu Milena schicken, damit sie dein verdammtes Blut schlürfen kann, aber das wird ihr nicht schmecken!«
»Wie redest du denn mit mir, Alter?«
»So wie es sich gehört.«
»Keinen Streit,« mischte sich Hank schleichend ein. »Um Himmels willen keinen Streit. Wir haben unsere eigenen Probleme. Die Urne ist
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