0574 - Der chinesische Tod
kalten Luftzug, der gegen ihr Gesicht wehte.
Sie blieb stehen, wunderte sich. Das Fenster stand weit offen. Für einen Augenblick überflutete sie die Hoffnung, daß Osa, so hatte sie ihre Tochter genannt, die Flucht ergriffen hätte.
Eine Hoffnung, die brutal zerstört wurde, denn Osa stand auf der äußeren Fensterbank.
Das an sich wäre nicht schlimm gewesen. Sehr deutlich aber sah sie die schräge Linie. Vom Fensterkreuz lief sie zum Hals des jungen Mädchens und endete in einer Schlinge, die sich um Osas Kehle spannte…
***
Osa hatte den Kopf nicht gedreht, aber sie wußte auch so, wer in der offenen Tür stand. Ihre Stimme zitterte kaum, als sie sprach. »Wenn ihr auch nur einen Fuß in mein Zimmer setzt, werde ich springen. Dann bekommt ihr mich nicht!«
Bisher hatte sich Man Lei beherrscht. Plötzlich konnte sie nicht mehr. Sie schrie auf, spürte, daß ein Krampf sie überfallen würde, so daß sie weiterschreien mußte, aber da war die Hand, die sich von hinten her auf ihren Mund preßte.
Der Schrei erstickte. Man Lei würgte unter dem Druck. Einen Moment später wurde sie zur Seite geschleudert und prallte gegen die Wand, wo sie zitternd stehenblieb.
Die beiden Männer betraten den kleinen Raum, der spartanisch eingerichtet war. Nicht eine Lampe spendete Licht. Man Lei hatte auf die Warnung ihrer Tochter gehört, die Kerle taten es nicht. Sie gingen einfach weiter.
»Bleibt stehen!« flüsterte sie. »Bitte, ihr dürft nicht weitergehen! Ihr müßt stehenbleiben! Ich… ich … sie wird sonst springen.«
Womit Man Lei nicht gerechnet hatte, trat ein. Die beiden Männer stoppten tatsächlich.
Sie kannte die Namen der Knechte nicht, für sie waren es einfach nur Henker, grausame Gesellen, die nichts dabei fanden, andere zu töten. Einer von ihnen behielt Osa im Auge, der andere wandte sich direkt an Man Lei. »Sag deiner Tochter, daß wir sie auserwählt haben und sie es sich überlegen soll.«
Auch Osa hatte die Worte überlegt. Die Antwort überließ sie nicht ihrer Mutter. »Ich habe mich einmal entschieden!« erklärte das mit dem Hals in der Schlinge steckende Mädchen. »Dabei bleibt es auch. Ich werde nicht das tun, was ihr verlangt.«
»Dann werden es andere zu büßen haben! Wer sich gegen den Erhabenen aus Jade stemmt, fordert seine Strafe heraus.«
Osa lachte. Es hörte sich unecht und kratzig an. »Der aus Jade Erhabene«, benutzte sie den korrekten Begriff, »ist kein Mörder. Er will es nicht. Es sind seine treulos, hinterlistig perfiden Abkömmlinge, die dämonischen Krüppel, die seinen Namen nur benutzen.«
»Wir haben dich ausgesucht, Osa. Wir werden davon nicht losgehen, verstanden?«
»Nein! Ich werde springen!«
»Wenn du die Boten der Finsternis reizt, kommen sie als grausame Rächer über deine Familie. Hüte dich, Osa. Du kennst die alten Gesetze. Folge ihnen, sei gehorsam!«
»Das werde ich nicht sein!« schrie sie. »Wir leben nicht mehr im alten China. Hier herrschen andere Gesetze.«
»Keiner von uns kann und darf seine Herkunft vergessen, Osa. Wer es trotzdem tut, bringt Unglück über die anderen.«
»Dann bringe ich eben Unglück. Ja, dann bringe ich Unglück. Ich will es einfach nicht.«
»Das Feuer der Reinheit wartet, Osa. Drei Kerzen werden leuchten, um die Diener zufrieden zu stellen. Du kannst dich nicht widersetzen.«
»Doch!« schrie sie – und sprang.
Selbst die beiden Namenlosen wurden von ihrer Aktion überrascht. Das Seil straffte sich. Sie hörten noch ein singendes Geräusch, dann war der Körper des Mädchens verschwunden. Ein harter Schlag erklang, als er von außen gegen die Hauswand prallte. Das Fensterkreuz zitterte. Es sah aus, als wollte es zerbrechen, doch es hielt.
Man Lei war viel zu entsetzt, um schreien zu können. Sie begriff diesen fürchterlichen Vorgang noch nicht, es kam ihr vor wie ein böser Traum. Vor ihren Augen drehte sich das Zimmer. Aus ihrem Mund drang ein langgezogener Seufzer, dann brach sie auf der Stelle ohnmächtig zusammen.
Der Sprecher aber fluchte. Er war zuerst am Fenster, schaute hinaus und sah einen Körper, der vor der Hauswand in der Schlinge hing und leicht hin und her schwang.
Die Beine berührten den Boden nicht. Osa blieb keine Zeit zum Überleben.
Die Männer schauten sich gegenseitig an, zischelten sich etwas zu, drehten ihre Köpfe und schauten auf die bewegungslos liegende Man Lei. Dann verließen sie wortlos den Raum, ohne die Tür hinter sich zuzuziehen. Ihre Schritte verklangen im
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