0580 - Ginas Mörderschloß
»Stein«.
Mucksmäuschenstill verhielt er sich. Nur das Murmeln des Bachs war zu hören. Nicht weit entfernt huschten Eichhörnchen durch das noch vom letzten Winter liegengebliebene Laub, aber die Tiere hatten ihn nicht gestört. Es war etwas anderes gewesen.
So lautlos wie eben möglich drehte er sich auf dem Stein hockend um.
Seine nackten Fußsohlen erzeugten nicht einmal das leiseste Schleifen. Die Augen hielt er weit offen und starrte in das Zwielicht hinein, das den Wald wie ein Gespinst umfangen hielt.
Erkennen konnte er nichts. Die Bäume standen einfach zu dicht.
Der letzte Frühlingssturm hatte zudem die nicht mehr gesunden weggeknickt. Sie lagen kreuz und quer, bildeten an manchen Stellen Barrieren, die nur schwerlich überklettert werden konnten.
Hinzu kam das dichte Unterholz, das Mario ebenfalls einen Großteil der Sicht nahm.
Hatte er sich doch getäuscht?
Er dachte noch einmal intensiv über das Geräusch nach. Es war ihm bekannt vorgekommen und hatte sich trotzdem fremd angehört. Es paßte einfach nicht in den Wald.
Er richtete sich auf. Der Krug war bis zum Rand mit frischem Bachwasser gefüllt. Die Menge würde den Abend und auch die Nacht über hinweg ausreichen.
Noch einmal blickte er sich um, ohne etwas Verdächtiges entdecken zu können. Dann stemmte er den gefüllten Krug hoch und stellte ihn auf seinen Kopf. Diese Art etwas zu tragen, war er von frühester Kindheit gewohnt. Es machte ihm nichts aus.
Kaum ein Tropfen ging verloren, als er den leichten Hang der Senke hochstieg. Auch im dichten Wald kannte er einen guten Pfad, der ihn ohne Schwierigkeiten zurück zur Hütte brachte. Dennoch wurde er vorsichtig, als die Lichtung zwischen den Lücken der Baumstämme in Sicht kam. Er hatte das Geräusch einfach nicht vergessen können.
Vor der Behausung standen vier Pferde!
Auf einmal war ihm alles klar. Jetzt wußte er auch, was das Geräusch zu bedeuten hatte. Es war das Schnauben eines Pferdes gewesen. Das genau paßte nicht in die Kulisse. Tiere gehörten zwar zur Natur, allerdings nicht, wenn sie gezähmt worden waren.
Mario verharrte mitten in der Bewegung. Ein wenig zu schnell.
Aus der Schnabelöffnung schwappte Wasser und ergoß sich über seinen Kopf. Die Haare lagen wie ein feuchter Lappen.
Männer erschienen. Sie hatten sich hinter der Hütte aufgehalten.
Jetzt kamen sie zum Vorschein und legten ihre Reisigbündel ab, die sie auf den Schultern getragen hatten.
Vor der Hütte schichteten sie die Bündel auf, was Mario gut beobachten konnte. Etwas rann kalt wie Eis über seinen Rücken hinab. Er erinnerte sich an Erzählungen seiner Mutter, die von Hexenverbrennungen gesprochen hatte.
Da hatten die bedauernswerten Frauen inmitten der Reisigbündel gestanden und waren mit ihnen zusammen in Flammen aufgegangen. Seine Mutter hatte auch von den fürchterlichen Schreien berichtet, die diese Frauen in Todesangst ausgestoßen hatten.
Seiner Mutter drohte nun das gleiche Schicksal. Sie schien es gewußt zu haben, sonst hätte sie sich anders verhalten. Aber sie befand sich nicht in der Hütte, das war ihr großer Vorteil.
Mario dachte nur daran, wie er seiner Mutter und sich selbst das grausame Schicksal ersparen konnte.
Er durfte sich auf keinen Fall zeigen, mußte im Wald bleiben und versuchen, in Deckung der Bäume und des dichten Unterholzes zu entkommen. Den Krug hob er behutsam an, um ihn dann langsam zu Boden zu stellen. Nur keine hastige Bewegung, die eventuell gesehen werden konnte.
Der Krug hatte mit seinem Boden den Grund noch nicht berührt, als es geschah. Mario konnte nicht sagen, weshalb ihn sein Instinkt ausgerechnet in diesem Augenblick im Stich gelassen hatte, aber es war so. Um ihn herum wurde es lebendig.
Ein harter Befehl erklang.
Mario wirbelte herum. Er sah eine bärtige, riesenhafte Gestalt vor sich aufwachsen. Die Augen kamen ihm übergroß vor, der Mann hielt einen Knüppel in der Hand, um ihn dem Jungen über den Kopf zu ziehen.
Mario reagierte blitzschnell.
Den Krug hielt er noch fest. Er wuchtete ihn hoch und schleuderte ihn auf den Mann zu.
Krug und Kopf krachten zusammen.
Der Mann schrie auf. Er hatte seine Hände nicht mehr schützend vor das Gesicht reißen können. Der Krug zerbrach nicht, auch nicht, als er dumpf zu Boden polterte.
Da war Mario bereits mit einem geschmeidigen Sprung zur Seite gewichen und genau in einen Schlag hineingelaufen. Aus dem Zwielicht wischte etwas hervor wie eine durch die Luft fliegende Schlange, die
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