0580 - Ginas Mörderschloß
starrte mich an, als hätte ich ihn beleidigt. Dann schüttelte er den Kopf. Es waren nur sehr langsame Bewegungen, dabei veränderte sich auch sein Gesichtsausdruck. Was zunächst wie ein kaum greifbares Staunen aussah, wurde zu einer Grimasse der Wut. Aus seinen Augen flammte es mir entgegen, und als er den Mund öffnete, drang ein krächzendes Geräusch über die Lippen.
Ich blieb cool und lächelte ihn ebenso an, was ihm den Rest an Beherrschung raubte.
Er kam wie ein Büffel. Zunächst noch relativ langsam, dann aber stürmte er auf mich zu. Die Arme hatte er halb angehoben, er holte auch aus und war sicher, mich mit seinem Schlag zu Boden schmettern zu können.
Ein Irrtum.
Ich hörte die Faust pfeifen, so nahe wischte sie an meinem Ohr vorbei. Dann trat ich zu, weil ich mir nicht die Handknöchel an seinem knochigen Gesicht verletzen wollte.
Er röchelte, als er taumelte und zur Seite kippte. Einmal rollte er sich über den Boden und hielt sich den Bauch.
»Lassen Sie das sein!« warnte ich ihn.
Er gab mir keine Antwort. Der Magen schien eine empfindliche Stelle zu sein. Ich kümmerte mich nicht weiter um ihn, sondern betrat die Schule. In der Halle kam es mir nach der unnatürlichen Frühlingshitze draußen direkt angenehm vor. Die Kühle streichelte mein Gesicht.
Ich ging inzwischen davon aus, daß es sich bei dem winkenden Jungen um Dennis Höller gehandelt hatte. Er befand sich unter dem Dach, ich mußte die breiten Treppenaufgänge hoch. So ähnlich hatte auch meine Schule im Innern ausgesehen und ebenfalls die Uni.
Bis zur Treppe kam ich.
Plötzlich aber explodierte etwas hinter mir. Der Knall donnerte in meinem Trommelfell. Ich hechtete blitzschnell nach vorn, denn ich hatte sofort gewußt, daß jemand geschossen hatte.
Auf dem Boden drehte ich mich herum, zog meine Beretta und sah Orth wieder heranstürmen.
Ein grauenhaft verzerrtes Gesicht. Er ging wieder geduckt, der Haß sprühte aus seinen Augen.
Diesmal jedoch war etwas anders.
Seine Pranken hielten ein Schnellfeuergewehr umklammert!
***
Dennis Höller träumte!
Oder war es kein Traum, sondern ein Hineinziehen in die andere Welt, die nichts mehr mit der zu tun hatte, in der er sich normalerweise aufhielt?
Er konnte es nicht sagen, er wollte darüber auch nicht nachdenken, denn seine Welt, in der er aufgewachsen war, die existierte nicht mehr. Eine andere hatte von ihm so stark Besitz ergriffen, daß er alles normal erlebte, als hätte er diese Welt nicht verlassen.
Dennis nahm die Geräusche wahr. Es roch nach Kräutern, nach Feuer, auch nach Rauch.
Alles sehr fremdartig, für ihn jedoch irgendwie vertraut. Er holte nur durch die Nase Luft und hielt die Augen weit offen.
Über ihm schimmerte durch eine Lücke ein langsam dunkler werdender Himmel.
Es dämmerte.
Und er lag auf dem einfachen Lager aus Reisig und Stroh. Er hatte geschlafen, richtete sich plötzlich auf und dachte nach. Mit den gespreizten Fingern fuhr er durch seine sehr wirr wachsenden Haare und spürte, daß seine Kehle fast ausgetrocknet war.
In der Hütte brannte kein Feuer. Nur der Kamin und die Aschereste darin rochen.
Dennis stand auf und ging dorthin, wo der Krug immer stand.
Zweimal am Tag wurde er mit frischem Wasser gefüllt. Der Rest befand sich noch darin. Das Wasser vom Morgen schmeckte fade.
Dennis kippte es trotzdem in seinen weit geöffneten Mund.
Als er den Krug geleert hatte, war das Kratzen aus seinem Hals endlich verschwunden.
Warum war er eingeschlafen? Er hatte nicht schlafen wollen und erinnerte sich daran, daß er dies eigentlich seiner Mutter verdankte, die ihm am Mittag befohlen hatte, sich hinzulegen. Dabei hatte ihn seine Mutter genau angeschaut, erst prüfend, dann mit einem schmerzlichen Blick, der etwas Endgültiges, Abschiednehmen an sich hatte. »Du mußt schlafen, Mario, du mußt schlafen, denn du brauchst deine Kraft für die Nacht, das kann ich dir versprechen.«
Er wußte nicht, was die Mutter damit gemeint hatte. Die Nacht war noch nicht hereingebrochen, aber es würde nicht mehr lange dauern, bis sich die Schwingen der Dunkelheit über dem Land ausbreiteten und alles in Besitz nahmen.
Zusammen mit seiner Mutter – den Vater hatte er nie gekannt, er fragte auch nicht mehr nach ihm – bewohnte er eine kleine Hütte am Rand des Waldes. Etwas oberhalb des Tals, in dem das kleine Schwarzwalddorf lag, das allerdings von ihm und seiner Mutter Gina gemieden wurde. Sie waren dort nicht willkommen und schon des öfteren
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