0586 - Gasthaus zur Hölle
hatte Glück, sie war im Tal zurückgeblieben, weil sie sich nicht wohl fühlte. Na ja, das liegt jetzt zehn Jahre zurück. Sie hat dann als Verkäuferin eine Lehre in der Bäckerei gemacht und wurde übernommen.«
»Trotzdem muß sie mich gekannt haben«, murmelte ich. »Oder jemand anderer hat mich gekannt.«
»Laß uns hingehen«, schlug Suko vor, »aber zunächst möchte ich mir den Friedhof anschauen.«
Der Meinung war ich auch. Eine Frage brannte mir noch auf der Zunge. Ich stellte sie Bärbel Hechter. »Sagen Sie ehrlich, weshalb haben Sie die Zeremonie so schnell, ja fast schon fluchtartig verlassen?«
Ihre prompte Antwort überraschte mich. »Ich wußte nicht, was ich dort noch sollte.«
»Wie bitte? Entschuldigen Sie, Gertrud Moser war Ihre beste Freundin. Sie hatten doch die Pflicht, sie auf ihrem letzten Weg zu begleiten. Oder sehe ich das falsch?«
»Nein, Herr Sinclair, Sie sehen das schon richtig. Aber es ging nicht mehr um sie, sondern um die anderen Trauergäste. Oder die angeblichen, die dort standen.«
»Moment mal…«
»Ja, Sie haben richtig gehört. Diese Menschen haben keine Trauer empfunden. Die sind nur aus Neugierde mitgegangen. Ich habe bis jetzt nicht begriffen, weshalb sie sich überhaupt um das Grab versammelten. Sie hätten zu Hause bleiben sollen.«
»Waren es Fremde?«
»Ja und nein. Jedenfalls besaßen sie zu der Toten kaum eine Beziehung, das steht fest.«
»Dennoch sind sie mitgegangen«, murmelte Suko. »Da steckte möglicherweise mehr dahinter.«
»Das habe ich mir auch gesagt und bin deshalb frühzeitig verschwunden.«
»Kennen Sie einen Grund?«
»Nein, nicht direkt. Aber ich hatte plötzlich das Gefühl, als würden diese Menschen nur Masken tragen, als sie am Grab standen. Masken, die ihr wahres Gesicht verbargen. Verstehen Sie mich?«
»Es ist nicht einfach«, gab ich zu.
»Ich habe auch nur gefühlsmäßig gehandelt, weil sich die Atmosphäre plötzlich änderte. Trotz des Pfarrers spürte ich eine ungewöhnliche Kälte. Mir war, als hätte etwas anderes die Umgebung des Grabes in Besitz genommen. Sie können mich für überdreht halten, für eine Spinnerin, aber dem war tatsächlich so.«
»Nein, wir halten Sie nicht für eine Spinnerin«, beruhigte ich sie und kam wieder zum Thema. »Die Menschen waren doch irgendwie harmlos, oder etwas nicht?«
» Waren , Herr Sinclair.« Sie hob die Schultern. »Ich glaube, ich habe Sie lange genug aufgehalten.«
»Wo wollen Sie hin?«
»Ich werde nach Hause gehen und dort trauern«, sagte sie, nahm die Brille ab und wischte über die tränennassen Augen. »Wenn Sie mich nun entschuldigen wollen…«
Wir hielten sie nicht fest, als sie den Weg entlangschritt und sich nach links wandte.
Die übrigen Bänke in der Nähe waren leer. Suko und ich blieben allein zurück.
Mein Freund runzelte die Stirn und atmete scharf. »Wirst du aus ihrem Verhalten schlau, John?«
»Nein.«
»Ich würde vorschlagen, daß wir sie etwas unter Beobachtung halten.«
»Klar, deshalb…«
Hastige Schritte ließen mich verstummen. Aus der Deckung einer Buschwand löste sich eine Gestalt. Es war Bärbel Hechter, die mit schnellen Schritten auf uns zulief. Die Sonnenbrille trug sie nicht mehr, wir konnten ihr Gesicht besser erkennen und sahen auch den verzerrten Zug um beide Mundwinkel.
Als sie uns erreicht hatte, standen wir schon. »Was ist denn?« fragte ich.
»Wieder das gleiche«, flüsterte sie und bekam eine Gänsehaut.
»Mich überkam wieder das gleiche Gefühl wie auf dem Friedhof. Jetzt… jetzt kommen sie mir entgegen, aber ohne den Pfarrer. Ich habe Angst vor ihnen bekommen.«
»Sie sprechen von den Trauergästen?« erkundigte sich Suko sicherheitshalber.
»Natürlich.«
Bärbel Hechter hatte angstvoll und dennoch sehr überzeugend gesprochen. Wir mußten es uns einfach ansehen. »Können Sie uns hinführen?« fragte ich.
»Ja, aber das ist gefährlich.«
»Die Trauergäste?«
»Sie kommen mir verändert vor. Das hatte ich Ihnen schon gesagt. Wirklich, Mr. Sinclair.«
Wir gaben ihr keine Chance, noch länger zu warten. Von uns wurde sie in die Mitte genommen. Gemeinsam gingen wir den gleichen Weg zurück, den sie gekommen war.
Hinter der dichten Hecke, die wegen ihrer Höhe einen Großteil der Sicht nahm, wurde der Weg breiter.
Plötzlich hatte auch ich das Gefühl der Veränderung zum Negativen hin. Ich sah nach vorn, ich erkannte die Trauergäste, die nebeneinander hergingen. Niemand konnte mehr an ihnen vorbei,
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