0586 - Gasthaus zur Hölle
Frau. Der Platz lag ziemlich versteckt, er war umgeben von hohen Bäumen. Nicht weit entfernt stand ein Wasserbecken aus Stein. Von dort strömte uns fauliger Geruch entgegen.
Die Frau saß gebeugt, sah uns nicht.
Sie hörte jedoch unsere Schritte auf dem Kies und schaute hoch.
Verweinte Augen sahen uns an, das hellbraune Haar war zerzaust.
Die Frau trug ein schwarzes Kostüm, viel zu warm für dieses Wetter.
»Dürfen wir uns zu Ihnen setzen?« erkundigte ich mich.
Sie reagierte nicht. Dann fragte sie nach dem Grund, den ich mit zwei Worten nannte: »Gertrud Moser.«
Sie schneuzte die Nase. Ihre Haut wirkte blaß und an manchen Stellen durchsichtig. Dann hob sie die schmalen Schultern. Wir verstanden es als Aufforderung und rahmten sie ein.
Ich stellte uns vor. Daß wir von der Polizei waren, nahm sie positiv zur Kenntnis. Sogar ein dünnes Lächeln huschte über ihre Lippen. »Es ist nur«, flüsterte sie. »Sie… Sie kommen nicht von hier.«
»Nein, aus London.«
»Und Sie haben Gertrud gekannt?«
»Das nicht. Sie schrieb mir einen Brief. Darf ich auch Ihren Namen erfahren?«
»Ich heiße Bärbel Hechter.«
»Wie standen Sie zu Gertrud?«
»Sie und ich… wir … wir waren die besten Freundinnen. Ich konnte einfach nicht mehr am Grab bleiben. Es war so fürchterlich für mich. So schrecklich …«
»Das verstehen wir.«
Bärbel Hechter nickte. »Gertrud hat mir immer alles berichtet und erzählt. Nur daß Sie Ihnen einen Brief geschrieben haben soll, davon weiß ich nichts.«
»Möchten Sie ihn lesen?«
»Wenn Sie wollen.«
»Natürlich.« Ich reichte ihr das Schreiben. Sie nahm es mit spitzen Fingern entgegen.
Wir schauten der jungen Frau zu, als sie las, schließlich den Kopf schüttelte und mir den Brief kommentarlos zurückgab.
»Sie sagen nichts, Frau Hechter?«
»Es ist ihre Schrift.« Sie nickte, der Blick glitt ins Leere. »Ja, es ist ihre Schrift.« Dann kramte sie eine dunkle Brille aus der schmalen Lacktasche und setzte sie auf. »Aber ich weiß nicht, was es bedeuten soll? Ich sehe den Grund nicht, weshalb Gertrud Ihnen diesen Brief schrieb. Tut mir leid.«
»Also hat sie nicht mit Ihnen darüber gesprochen?«
»Nein, Herr Sinclair, nein. Ich kann mir nur vorstellen, daß sie das Schreiben dicht vor ihrem Tod verfaßt hat.«
»Vielleicht war der Brief das Motiv für ihre Ermordung«, meinte Suko.
Bärbel Hechter schrie die Antwort fast. »Warum hat man sie getötet? Meine Freundin kannte Sie nicht. Sie haben Gertrud noch nie gesehen. Welch eine Verbindung besteht zwischen ihr und Ihnen? Oder hat man sie einfach nur ausgesucht.«
»Sie vergessen, daß auf dem Friedhof ein Grab für mich gekauft worden ist.«
»Aber nicht von Gertrud.«
»Woher wissen Sie das?«
»Sie hätte mit mir darüber gesprochen. Wir haben stets über ungewöhnliche Fälle geredet, glauben Sie mir.«
»Gut, das müssen wir so hinnehmen. Dennoch möchte ich mir mein Grab anschauen.«
Bärbel Hechter nickte. »Ja, es ist auch nicht weit von Gertruds Wohnung entfernt. Sie hat in einer Bäckerei als Verkäuferin gearbeitet. Der Friedhof, die Bäckerei und das Gasthaus liegen außerhalb der Innenstadt und ziemlich zusammen.«
»Ein Gasthaus?« fragte ich.
»Ja. Es ist schon alt. Früher war es mal eine Pferdewechselstation. Jetzt kann man dort essen und trinken und sich amüsieren, sagen die Leute. Ich selbst habe es noch nie betreten.«
»Wieso amüsieren?« wollte Suko wissen.
»Ach, das ist nur ein Gerücht. Man spricht von leichten Mädchen. Ob es stimmt, weiß ich nicht. Wie gesagt, ich habe noch keinen Blick hineinwerfen können. Manche nennen es Gasthaus zur Hölle. Der Friedhof liegt genau gegenüber.«
»Gasthaus zur Hölle?«
Zum erstenmal lachte sie, als sie Sukos Nachfrage hörte. »Ja, das hört sich schlimmer an, als es ist, finde ich. Wie gesagt, die Einheimischen haben den Namen gegeben.«
»Hat es geöffnet?« fragte Suko.
»Erst am Nachmittag, dann bis in die Nacht hinein.« Sie bekam einen Schauer. »Es ist schon eine unheimliche Gegend dort. Besonders in der Nacht, wenn die Nebel kommen. Allein möchte ich auch nicht am Friedhof vorbeigehen.«
»Was hatte Ihre Freundin dort zu suchen? War sie nur auf dem Nachhauseweg?«
»So ist es.« Sie lehnte sich zurück. »Wissen Sie, Herr Sinclair, die Menschen am Grab, die gehörten eigentlich nicht zu ihr. Gertrud hatte keine Verwandten mehr. Die Familie kam bei einem Unglück ums Leben. Eine Lawine damals verschüttete sie. Gertrud
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