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06 - Denn keiner ist ohne Schuld

06 - Denn keiner ist ohne Schuld

Titel: 06 - Denn keiner ist ohne Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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›Wann hörst du endlich mal zu wachsen auf, Josephine Eugenia?‹ Sie wissen schon. Die hier gehören Mr. Wragg. Er hat nichts dagegen.«
    Sie senkte ihre Beine wieder.
    »Warum nennst du ihn Mr. Wragg?«
    Sie hatte eine frische Packung Zigaretten herausgezogen und mühte sich, das Zellophan mit behandschuhten Händen herunterzuziehen. Brendan kam über die Straße, nahm ihr die Packung aus den Händen, öffnete sie, bot ihr eine Zigarette an und gab ihr Feuer. Sie rauchte, ohne ihm eine Antwort zu geben, versuchte vergeblich, einen Rauchring zustande zu bringen.
    »Das ist nur Getue«, sagte sie schließlich. »Blöd, ich weiß schon. Sie brauchen's mir nicht erst zu sagen. Meine Mutter sieht immer rot, wenn ich das sage, aber Mr. Wragg ist es egal. Wenn er nicht mein richtiger Vater ist, kann ich mir einbilden, meine Mutter hätte mal eine große Leidenschaft gehabt, wissen Sie, und ich bin das Produkt dieser großen Liebe. Ich stell mir vor, dieser Mann ist auf der Reise nach weiß Gott wohin durch Winslough gekommen, und da hat er meine Mutter getroffen. Und es war Liebe auf den ersten Blick, aber sie konnten nicht heiraten, weil meine Mutter niemals aus Lancashire weggegangen wäre. Aber er war die große Liebe ihres Lebens, und er hat sie in Flammen gesetzt, wie das die richtigen Männer mit den Frauen eben so machen. Und wenn sie mich ansieht, dann erinnert sie sich an ihn.«
    Josie schnippte Asche von ihrer Zigarette. »Darum nenn ich ihn Mr. Wragg. Es ist blöd. Ich weiß nicht, warum ich Ihnen das erzählt hab. Ich weiß überhaupt nicht, warum ich überhaupt noch den Mund aufmache. Immer ist es meine Schuld, und irgendwann merken das alle. Ich quassle zuviel.«
    Ihre Lippen bebten. Sie rieb sich mit dem Finger unter der Nase und warf ihre Zigarette weg. Sie erlosch leise zischend im Schnee.
    »Quasseln ist doch kein Verbrechen, Josie.«
    »Maggie Spence war meine beste Freundin, wissen Sie. Und jetzt ist sie fort. Mr. Wragg hat gesagt, daß sie wahrscheinlich nicht mehr wiederkommt. Und sie hat Nick geliebt. Haben Sie das gewußt? Das war wahre Liebe. Und jetzt sehen sie sich nie wieder. Ich finde, das ist nicht fair.«
    Brendan nickte. »Ja, so ist das Leben, nicht wahr?«
    »Und Pam hat Hausarrest bis in alle Ewigkeit, weil ihre Mutter sie gestern abend mit Todd im Wohnzimmer erwischt hat. Wie sie's getan haben. Ihre Mutter hat das Licht angemacht und angefangen zu schreien. Es war wie im Film, hat Pam gesagt. Und jetzt ist niemand mehr da. Niemand, der mir was bedeutet. Ich fühl mich irgendwie leer. Hier.«
    Sie deutete auf ihren Magen. »Meine Mutter sagt, ich hätte nur Hunger. Aber das ist nicht wahr. Ich hab keinen Hunger. Verstehen Sie, was ich meine?«
    Ja, er verstand sie nur zu gut. Er kannte diese Leere. Er fühlte sich manchmal wie die personifizierte Leere.
    »Und an den Pfarrer darf ich gar nicht denken«, sagte sie. »Eigentlich darf ich an gar nichts denken.«
    Sie starrte blinzelnd auf die Straße. »Wenigstens haben wir Schnee. Der ist schön zum Anschauen. Jetzt jedenfalls.«
    »Ja.«
    Er nickte, gab ihr einen Klaps aufs Knie und ging weiter. Er bog in die Clitheroe Road ein und konzentrierte sich ganz aufs Gehen, um nicht denken zu müssen.
    In der Clitheroe Road kam man besser vorwärts als auf dem Weg ins Dorf. Mehr als eine Person waren hier schon durch den Schnee gestapft, wahrscheinlich auf dem Weg zur Kirche. Zwei von ihnen - den Londonern - begegnete er nicht weit von der Grundschule entfernt. Sie gingen langsam, die Köpfe nahe beieinander, während sie miteinander sprachen. Sie sahen nur kurz auf, als er an ihnen vorüberging.
    Flüchtige Traurigkeit durchzuckte ihn, als er sie sah. Der Anblick von Paaren, wie sie miteinander sprachen und einander berührten, würde ihm in den kommenden Jahren Schmerzen bereiten. Er konnte sich nur zu Gleichgültigkeit erziehen. Doch ob er das schaffen würde, ohne irgendwo Erleichterung zu suchen, war er nicht sicher.
    War dies nicht auch der Grund, warum er überhaupt unterwegs war, zielstrebig vorwärts marschierte und sich einzureden versuchte, er wollte nur nach dem Herrenhaus sehen? Die Bewegung war gesund, die Sonne tat ihm gut, er brauchte frische Luft. Aber hinter der Kirche wurde der Schnee tief, und als er das Pförtnerhäuschen endlich erreichte, blieb er erst einmal ein paar Minuten stehen, um zu verschnaufen.
    Nur eine kleine Pause, schwor er sich, während er die Fenster anstarrte, eines nach dem anderen, und nach Bewegung

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