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06 - Ein echter Snob

06 - Ein echter Snob

Titel: 06 - Ein echter Snob Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Chesney
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zu meistern. Die Diener in Lord Charteris'
Haushalt behandelten ihn mit allem Respekt, den sie seiner Stellung als erster
Lakai schuldig waren, und Joseph war nur hin und wieder traurig, wenn er an den
geschlossenen Fensterläden von Nummer 67 vorbeiging und die verwaisten Stellen
auf der Eingangstreppe sah, auf denen die zwei Eisenhunde gestanden hatten.
    Jonas Palmer saß bedrückt in dem
schlingernden Alptraum, dem Schiff, das ihn nach Amerika brachte. Er konnte es
nicht fassen, dass das Leben so ungerecht war. Als er in Bristol angekommen
war, hatte ihm ein Taschendieb seinen Geldbeutel gestohlen. Da er
steckbrieflich gesucht wurde, wagte er es nicht, zur Polizei zu gehen. Aber er
wagte es auch nicht, in England zu bleiben. Es gab nur eine Möglichkeit für
einen Mann ohne Geld, eine freie Schiffspassage nach Amerika zu bekommen.
    So musste Jonas Palmer sich als
Diener verdingen mit der Verpflichtung, sieben Jahre lang ohne den geringsten
Lohn in Philadelphia zu arbeiten. Er gab an allem Rainbird die Schuld, da er
davon überzeugt war, dass der Butler sein sorgsam gehütetes Geheimnis
herausgefunden und es dem Herzog verraten hatte. Wenn er — wie so oft — an Rainbird
dachte, hoffte er, dass der Herzog ihn hinausgeworfen habe und der Butler
Hungers sterben müsse.
    Lizzie Gendreau ließ den Brief sinken, den
sie gerade gelesen hatte, und errötete schuldbewusst, als ihr Mann ins Zimmer
kam. Sie war eine richtige Dame geworden. Zuerst hatte sie es als schwierig
empfunden, ihre eigenen Diener anzuleiten und ihren neuen Status zu
akzeptieren. Aber sie war bald ein Jahr verheiratet und hatte fast vergessen,
wie sie sich in jenen lange vergangenen Tagen gefühlt hatte, als sie als
Küchenmädchen in die Clarges Street gekommen war.
    »Wer hat dir geschrieben?« fragte
ihr Mann.
    »Der Brief ist von Mrs. MacGregor«,
sagte Lizzie. »Erinnerst du dich, das war Mrs. Middleton, die Haushälterin. Sie
meint, es wäre eine ausgezeichnete Idee, wenn wir uns in einem Monat alle
treffen würden — im Gasthaus.«
    »Und ohne Zweifel wird auch dieser
Laffe, Joseph, da sein?«
    »Ja. Aber du musst wissen, dass du
von Joseph nichts zu befürchten hast, und ich würde sie so gerne alle
wiedersehen.«
    Er blickte in ihr bittendes Gesicht.
»Also gut«, sagte er sanft. »Ich werde dich hinbringen und dich einen Tag bei
ihnen lassen, aber damit muss es sein Bewenden haben. Am Abend hole ich dich
wieder ab.«
    Und so machten sich die früheren
Diener von Nummer 67 an einem Junitag alle zum >Holly Bush< in Highgate
auf. Es war merkwürdig, dass die MacGregors den Namen >Holly Bush< beibehalten
hatten, wo sie sich doch so oft darüber unterhalten hatten, wie sie ihr
Gasthaus nennen wollten.
    Das Gasthaus war den ganzen Tag zu
Ehren ihrer Zusammenkunft für andere Gäste geschlossen. Sie redeten und
redeten. Es gab so viele Neuigkeiten auszutauschen. Joseph benahm sich gezierter
denn je zuvor und wußte viele Londoner Klatschgeschichten. Das frühere
Stubenmädchen Jenny stand kurz vor der Hochzeit mit einem Bauern im Dorf. Alice
war schwanger. Rainbird eilte von einem Erfolg zum andern, und Dave war sehr
fein gekleidet und gab ein bisschen an. Angus erzählte ihnen alle die
dramatischen Ereignisse des ersten Jahres und prahlte damit, dass seine
Kochkunst die Leute von weit und breit anziehe und dass sie Handwerker
beschäftigen wollten, die das Haus in eine Poststation umbauen sollten. Joseph
holte seine Mandoline hervor und spielte die alten Lieder. Aber gegen Abend
wurden die Gäste zusehends unruhiger und waren bestrebt, wieder nach Hause zu
kommen.
    »Es wird nie wieder dasselbe sein«,
trauerte Joseph, als er mit Lizzie draußen stand. »Wir waren einander früher so
eng verbunden.«
    »Wir sind alle erwachsen geworden,
Joseph«, sagte Lizzie sanft. »Und du bist glücklich, nicht wahr?«
    »Ja«, sagte Joseph. »Ja, ich bin
glücklich.« Er schaute auf die angeketteten Hunde auf den Stufen zum Gasthaus.
»Wenn ich mir überlege, wie oft ich sie poliert habe«, sagte er.
    Die Luft war weich und mild, und die
Vögel zirpten schläfrig im Efeu, der die Wände des Gasthauses bedeckte.
    »Ich freue mich für dich, Lizzie«,
sagte Joseph. »Du bist jetzt eine wirkliche Dame.«
    Einem plötzlichen Impuls nachgebend,
umarmte er sie herzlich. Paul Gendreau, der in diesem Augenblick in seinem Einspänner
ankam, gab keinen Kommentar dazu ab, aber er schwor sich, wie früher schon
einmal, dass es lange Zeit dauern würde, bevor er seiner

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