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06 - Weihnacht

06 - Weihnacht

Titel: 06 - Weihnacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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nennen. Ich bin überzeugt, daß die Bewohner von Weston stolz auf diesen ihren Mitbürger sein können.“
    „Davon haben wir gar keine Ahnung gehabt“, gestand der Wirt. Und indem er mich mit erstaunten Augen musterte, fuhr er fort: „Sie zeigen da Kenntnisse, die man bei Ihnen gar nicht vermuten konnte. Ein Westmann sind Sie nicht, denn ein solcher hat kein Geschick, sich in einer Kleidung, wie die Ihrige ist, so zu bewegen wie Sie; aber die Sprachen der Roten sind Ihnen bekannt, und Sie machen Gedichte. Wahrscheinlich gehören Sie dem studierenden Stande an?“
    „Sie haben recht; ich bin ein Federfuchser.“
    „Und, bitte, wie heißen Sie? Sie entschuldigen diese Frage. Man muß doch wissen, wie man Sie zu nennen hat.“
    Da ich verschweigen wollte, wer ich war, und mein richtiger Name möglicherweise auch hier als derjenige Old Shatterhands bekannt sein konnte, legte ich mir in der Schnelligkeit einen ähnlich klingenden bei, indem ich antwortete:
    „Mein Name ist ein so seltener, daß Sie ihn wahrscheinlich noch niemals gehört haben; ich heiße nämlich Meier.“
    „Meier?“ lachte er. „Allerdings höchst selten! Aber kennen tue ich ihn doch, denn ich muß Ihnen sagen, daß ich auch so heiße. Hatten sie eine bestimmte Absicht, in welcher Sie sich nach der Familie Hiller erkundigten?“
    „Ja. Es ist des Gedichtes wegen, welches vor einer Reihe von Jahren verfaßt wurde. Wer es sich so lange aufgehoben hat, der muß ein ganz besonderes Interesse daran haben, und so versteht es sich ganz von selbst, daß ich es gern wissen wollte, wer diese Frau Hiller ist.“
    „So besuchen Sie sie doch einmal! Sie hält sich zwar, ebenso wie ihr Mann, sehr zurück, wird aber doch wohl nicht so unhöflich sein, Sie abzuweisen.“
    „Es ist, wie ich höre, auch ein Sohn da?“
    „Ja. Er hat, wie bereits gesagt, auf den Lawyer (Jurist, Advokat) studiert, nimmt aber keine Stelle an, sondern sitzt zu Hause bei einer Menge von Büchern, mit denen er sich den ganzen Tag beschäftigt, als ob er sie auswendig lernen wolle. Sonst aber ist er, wenn man ihm begegnet, ein ganz freundlicher, junger Mann.“
    Es war so, wie ich gesagt hatte: Der Umstand, daß diese Frau mein Gedicht besaß, fiel mir auf. Woher hatte sie es? Sie war eine Deutschamerikanerin. Stammte sie aus meiner Heimat? Hatte sie es mit herübergebracht, oder war es ihr von einem Verwandten geschickt worden? Es fiel mir nicht ein, das Gedicht für so wertvoll zu halten, daß sie es nur dieses dichterischen Vorzuges wegen so lange aufgehoben hätte; ich sagte mir vielmehr, daß es damit eine andere Bewandtnis haben müsse, und bin aufrichtig genug, zu gestehen, daß mich die Neugier trieb, sie kennenzulernen. Ich ließ mir also ihre Wohnung beschreiben und ging, diese aufzusuchen.
    Das hübsche Häuschen hatte einen Seitengarten, in welchem eine Frau beschäftigt war, Spätrosen abzuschneiden. Ihr Kopf war zum Schutze gegen die Sonne mit einem weit vorgezogenen Tuche bedeckt, so daß ich ihr Gesicht nicht vollständig sehen konnte. Als ich mich bei ihr erkundigte, ob Frau Hiller zu sprechen sei, fragte sie, wer ich sei und was ich wolle. Ich nannte mich Meier und sagte, daß ich eine kurze Erkundigung beabsichtige und also gar nicht lange stören werde.
    „Gehen Sie hinein; ich komme gleich“, beschied sie mich und wendete sich dann wieder ihrer Arbeit zu.
    Im Flur gab es rechts und links eine Tür; die links war verschlossen; ich trat also rechts ein und befand mich dann in einem zwar kleinen aber für mich hochinteressanten Parloor, welches mit Waffen und indianischen Trophäen ausgestattet war. Ich fand aber keine Zeit zu einer langen Betrachtung derselben, denn die Frau, welche ich im Garten gesehen hatte, kam sehr bald nach und sagte, indem sie auf einen Stuhl zum Niedersitzen deutete:
    „Ich bin Frau Hiller. Womit kann ich Ihnen dienen, Mr. Meier?“
    Indem ich antworten wollte, nahm sie das Tuch vom Kopfe und legte es beiseite; ich bekam ihr ganzes Gesicht zu sehen und behielt vor Überraschung die Antwort auf den Lippen.
    „Nun, bitte!“ sagte sie, als sie sah, mit welchem Erstaunen ich sie betrachtete.
    War es Wirklichkeit, oder irrte ich mich infolge einer Ähnlichkeit, die allerdings auffällig gewesen wäre, wenn eine Täuschung vorgelegen hätte? Nun war es mir freilich klar, warum diese Frau mein Gedicht aufgehoben hatte, denn es bildete ein Erinnerungszeichen an die vielleicht trübsten Tage ihrer Vergangenheit.
    „Sie wollten sich nach

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