06 - Weihnacht
es klang doch fort und fort eine mahnende Stimme in mir, daß ich die Hand nach dem verlorenen Glauben an Gott und nach dem weggeworfenen Vertrauen zu ihm ausstrecken müsse, wenn ich nicht auch tot sein und mich verloren geben wolle. Wir waren während der Nacht dem Erfrieren nahe; dann nahm uns die arme Botenfrau mitleidig auf, und ich kniete am Sterbelager des Vaters, dem es nicht an der Wiege gesungen worden war, daß er einst auf Lumpen von der Erde scheiden werde. Meine Tränen rannen nach innen und drohten den mir von Ihnen gekommenen Weihnachtsschimmer wieder zu verlöschen. Er starb armselig, aber doch selig, Ihre Worte bestätigend:
‚Suchtest du noch im Verscheiden Droben den Versöhnungsstern,
Wird er dich zur Wahrheit leiten
Und zur Herrlichkeit des Herrn.‘
Als ich dann von seinem Lager aufstand, kämpfte in mir der Jammer, der mich wieder niederreißen wollte, mit der Pflicht, mich um meines Sohnes willen zusammenzuraffen und aufrecht zu halten. Hinter mir gähnte hart an meinen Fersen die klaffende Tiefe des überstandenen Elends; neben mir lag der Tote, von dem ich noch nicht wußte, wo er seine letzte Ruhestätte finden werde; vor mir stiegen steile, kahle, unbekannte Felsen auf, die kommenden Tage, die ich, schon jetzt vor Müdigkeit zusammenbrechend, erklimmen sollte, und welche Mittel hatte ich dazu? Eine trockene Brotrinde war alles, was ich besaß, alles – – – alles! Es wurde mir leer vor den Augen. Ich sah die Leiche nicht mehr, nicht die Frau, deren jämmerlicher Gast ich war, auch nicht meinen Sohn und auch nicht – – – Sie, der Sie sich bei uns befanden, ohne daß ich es beachtet hatte. Aber indem ich in eine endlose, leere Öde schaute, hörte ich Ihre mir noch bekannte Stimme; ich antwortete, ohne zu wissen, was; dann waren Sie fort. Dann saß ich auf dem Schemel und strengte mich an, zu mir zurückzukehren. Mein Sohn schmiegte sich an mich und sagte mir, es sei etwas in meiner Tasche, was Sie mir gegeben hätten. Ich nahm es heraus und hörte den Klang von – – – Geld! Herr, das Wort Geld ist ein gemeines, ordinäres Wort, aber ich sage Ihnen: Als ich die Silberstücke zählte, wurde es bei jedem einzelnen, welches ich zu den andern legte, lichter in mir. Ich dachte in diesem Augenblicke nicht an die Größe Ihres Opfers, sondern nur daran, daß es mir Rettung brachte. Es kam wie eine Erlösung über mich; ich konnte weinen – weinen – – weinen. Wie es dann kam, ich weiß es nicht, aber ich hatte Ihr Gedicht in den Händen, kniete am flackernden Herdfeuer und las unter Tränen Ihre Mahnung:
‚Hat der Herr ein Leid gegeben, Gibt er auch die Kraft dazu;
Bringt dir eine Last das Leben,
Trage nur, und hoffe du!‘
Das hatte ein Schüler, ein armer, vielleicht siebzehnjähriger Knabe gedichtet! Und ich?! Es war fast wie Scham, was da über mich kam. Ich ging hinaus vor die Mühle und ein Stück in den Wald hinein. Dort kniete ich nieder und betete – betete – – betete. Herr, mein Gott, ich konnte wieder beten! Als ich dann in die Stube zurückkehrte, hatte alles ein ganz anderes Aussehen als vorher. Das Elend war verschwunden und dafür ein stiller, weher Ernst zurückgeblieben. Die Botenfrau sagte mir, daß auch sie Geld von Ihnen bekommen habe, und sich nun morgen einmal recht sattessen wolle. Mein Knabe sah mich mit so liebevollen Augen an, und über das Gesicht des Toten hatte sich ein stiller, seliger Hauch des Friedens ausgebreitet. Es war mir, als befinde sich sein Geist an meiner Seite und flüstere mir tröstend zu:
‚Darum gilt auch mir die Freude, Die euch widerfahren ist,
Denn geboren wurde heute
Auch mein Heiland, Jesus Christ!‘
Und so ist es geblieben bis zum heutigen Tage. Reden Sie mir nicht darein, sondern lassen Sie mir diesen wohltuenden Glauben, daß mein Vater von Gott die Erlaubnis hat, unsichtbar bei mir zu weilen, um mich zu leiten und meinen Fuß vor Anstoß zu bewahren! Wenn Gott seine Engel sendet, die uns zu beschützen haben, können wohl auch unsere Abgeschiedenen, die uns durch ihre Liebe doch am nächsten stehen, solche Engel sein! Während die Heerscharen des Himmels seinen Thron umschweben, um ihm Halleluja von Ewigkeit zu Ewigkeit zu singen, steigen die Geister unserer Lieben auf und ab, um seine Befehle auszurichten und uns in ihren Schutz und ihre Hut zu nehmen. Ich möchte nicht um alles diese Überzeugung missen, die mir im Leiden Kraft gewährt, mich in der Einsamkeit tröstet und mir die frohe
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