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06 - Weihnacht

06 - Weihnacht

Titel: 06 - Weihnacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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    „Hier ist kein Platz für ein so frohes Wiedersehen. Meine Bucherrücken machen ein so ernstes Gesicht, daß wir uns ihren Augen unbedingt entziehen müssen.“
    Es waren fast lauter juristische Werke, und ich bekam später Gelegenheit, zu bemerken, daß sie sich meist auf die in Österreich geltenden Rechte bezogen. Den Grund sollte ich dann auch erfahren.
    Die beiden guten Menschen wollten vor allen Dingen möglichst viel über mich und meine Verhältnisse wissen. Ich konnte ihnen nur kurz sagen was die Frau schon von mir erfahren hatte, nämlich, daß ich Reiseschriftsteller sei und, fügte ich hinzu, über meine pekuniäre Lage nicht zu klagen habe. Damit mußten sie sich einstweilen zufriedengeben. Sie baten mich, während meines Aufenthaltes in Weston bei ihnen zu wohnen, und ich war überzeugt, daß ihnen das Eingehen auf diese Einladung große Freude gemacht hätte; aber ich schlug es ihnen ab, weil ich weiß, daß ich für Privatleute ein Gast bin, der unter Umständen sehr unangenehm werden kann, so daß sich die anfängliche Freude leicht in das Gegenteil verwandelt.
    Die in meinem Hause übliche Gastfreundschaft, welche ich eine westmännische nennen möchte, beraubt meinen Gast nicht einen Augenblick lang seiner Freiheit und Selbstbestimmung. Er bekommt als Zeichen, daß er sein eigener Herr bleibt, sofort den Hausschlüssel ausgehändigt. Er ist in jeder Beziehung Familienmitglied, und was ich habe, gehört, solange er bei mir ist, auch ihm. Er braucht nicht zu bitten oder auf Erfüllung eines Wunsches zu warten wie ein Fremder, sondern er hat nur zu wollen, zu bestimmen, ganz so zu tun, als ob er in seinem eigenen Hause sei. Wann er geht, und wann er kommt, ob er mit uns essen, mit uns ausfahren oder ausgehen will, ob es ihm beliebt, allein zu sein oder sich mit uns zu unterhalten, das ist alles seine Sache; er braucht darüber kein Wort zu verlieren. Wir suchen alle seine Wünsche zu erraten; wir leben nur für ihn; das ganze Haus, die Bedienung und jede andere Person ist nur für ihn da; aber er darf ja nichts davon merken, sonst fühlt er sich nicht frei, nicht wohl. Er muß den Eindruck, die feste Überzeugung haben, daß er auch nicht die allergeringste Störung mache, daß trotz seiner Anwesenheit das ganze häusliche Leben so verlaufe, als ob er gar nicht vorhanden sei. Ein Gast muß denken, daß man sich um ihn nicht mehr als um jeden andern Hausgenossen bekümmere, und sich dennoch oder vielmehr grad deshalb recht behaglich fühlen. Diese Art der Gastlichkeit scheint leicht auszuüben zu sein und wenig Aufopferung zu fordern, verlangt aber ganz im Gegenteile viel, viel mehr verborgene Aufmerksamkeit, Selbstlosigkeit und Individualisierungskunst als die andere, laute, ich möchte sagen protzige Art, über welche ich mich oft geärgert habe.
    Diese andere Art zeigt vor allen Dingen dem Gaste, daß er Gast ist. Man stürzt seinetwegen das Haus um; man verändert seinetwegen den Wirtschaftsplan; man schließt seinetwegen die gute Stube auf, geht seinetwegen ins Theater oder spazieren, macht seinetwegen eine Landpartie, kocht seinetwegen anderes Essen, zieht seinetwegen bessere Kleidung an, läßt sich seinetwegen nicht in den Hausschuhen sehen, führt seinetwegen im Gespräch einen andern Ton, macht seinetwegen aus dem Werktag einen Feiertag; alles geschieht oder unterbleibt nur seinetwegen, und zwar in einer Weise, die ihm dieses ‚Seinetwegen‘ bis zur höchsten Zweifellosigkeit beweisen muß. Dabei konzentriert sich alles nur um ihn; man ist vom Morgen bis zum Abend nur immer um ihn herum; er darf nicht den kleinen Finger bewegen, ohne daß man sofort nachzählt, ob er auch wirklich noch alle zehn beisammen habe. Man sorgt mit großem Fleiße dafür, daß er diese Opfer, diese Anspannung, diese Ausgaben, diese Aufmerksamkeit ja nicht übersieht, denn sonst könnte er, so meint man nämlich, vielleicht gar annehmen, daß er nicht willkommen sei. Der arme Teufel ist natürlich der reine Sklave dieser Gastlichkeit. Kein Augenblick gehört ihm; er kann nicht essen und trinken, was er will und was ihm bekommt; man läßt ihn keine Minute allein, weil er sich sonst verlassen fühlen könnte; er darf keinen einzigen Schritt unbegleitet aus dem Hause gehen; er kann nichts unternehmen, nichts ansehen, nichts kaufen, ohne mit Rat und Hilfe förmlich überschüttet zu werden. Und weil er sich trotz alledem für einen einsamen Waisenknaben, um den sich kein Mensch bekümmert, halten könnte,

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