06 - Weihnacht
wird er bei Verwandten und Bekannten und in allen Trinkwirtschaften herumgeschleppt, oder man ladet Gäste ein, die ihn unterhalten müssen. Der gute Mann erleidet wahre Folterqualen, die sich bis zum höchsten Grade der Tortur steigern, wenn er vielleicht die Unvorsichtigkeit begangen hat, in der Kunst, der Wissenschaft oder in irgendeinem andern Fache hervorragendes zu leisten, so daß sein Name in die Öffentlichkeit gedrungen ist. So ein Unglücklicher bekommt Einladungen über Einladungen, aber wehe ihm, wenn er einer folgt. Er wird von seinen lieben, aufopferungsvollen Gastfreunden herumgeritten, bis er vor Müdigkeit zusammenbricht. Diese Menschen haben keine Ahnung davon, daß sie geradezu eine Art von Mord begehen, wenn sie den Gast, der sich bei ihnen erholen will, vollständig seiner Freiheit berauben, alle Augen auf jede seiner Bewegungen und hundert Ohren auf jedes seiner Worte richten und von ihm verlangen, keinen einzigen Augenblick ein gewöhnlicher Mensch sondern von morgens früh bis abends spät ein geistreicher Mann zu sein. Es gibt sogar Leute, welche ihren Gast nur deshalb keine Minute aus den Augen lassen, weil sie annehmen, er sei als ihr Gast ihr persönliches Eigentum und dürfe sich den ganzen Tag nur ihnen, aber keine Viertelstunde lang einem andern Menschen widmen. Auf diese Weise machen sie sich für das, was er bei ihnen genießt, vielleicht ohne es genießen zu wollen, bezahlt und glauben dann auch noch, daß er ihnen Dank schuldig sei. Das Allerschlimmste aber dabei ist, daß er die Empörung, welche er darüber empfindet, nicht merken lassen darf, sondern alle Qualen dieses Marterpfahles, an den man ihn gefesselt hat, mit lächelnder Miene über sich ergehen lassen muß, wenn er sich nicht der Gefahr aussetzen will, für einen rücksichtslosen, undankbaren Menschen gehalten zu werden. – Das ist die Art der Gastfreundschaft, vor welcher mir graut, und bei der jeder vernünftige und freiheitsliebende Mensch in das Stoßgebet ausbricht: Herr, bewahre mich vor meinen Freunden; vor meinen Feinden kann ich mich schon selber schützen! Für solche Leute bin ich ein, wenn auch erst willkommener, dann aber sicher heimlich fortgewünschter Gast; ich halte es eine Weile aus, werde dann aber, wenn es sich nicht ändert, unangenehm, denn es hat jeder Mensch nicht nur das Recht sondern auch die Pflicht, sich seiner Haut zu wehren. Das Resultat meiner Erfahrungen an dieser Beziehung läßt sich mit wenigen Worten sagen: Ich habe gern Gäste, bin aber nicht gern selbst Gast.
So schlug ich auch hier in Weston die Bitte, bei Frau Hiller zu wohnen, in höflicher aber bestimmter Weise ab und entschädigte sie durch das Versprechen, am Abend wiederzukommen. Sie meinte, daß ich heute im Hotel doch nicht arbeiten könne, weil der durch das Festmahl und den Ball verursachte Lärm mich um die dazu nötige Sammlung bringen werde.
Die Jägerkompanie zog mit Musik durch die Stadt und dann nach dem Platze, auf welchem die Schießübungen stattfanden. Ich ging auch hin, um zuzusehen. Die Herren schossen für ihre Zwecke gut; ein Schütze à la Westmann war aber nicht dabei. Ich sah auch den Prayer-man, welcher auf dem Platze herumging, um seine Schriften anzubieten; er schien gute Geschäfte zu machen. Der Festplatz bot ganz genau das Bild einer deutschen Vogelwiese und konnte mich also nicht lange fesseln. Als es dunkel zu werden begann, suchte ich mein Hotel auf, wo die Herrichtung der Festtafel alle Hände in Anspruch nahm. Der Wirt hatte sich einige Aushilfskellner von auswärts kommen lassen, weil unter den durchwegs wohlhabenden Bewohnern der Stadt keiner zu finden gewesen war, der sich zu diesem Dienste herbeiließ. Sie wollten alle, anstatt zu bedienen, selber tanzen, was höchstwahrscheinlich auch keiner dem andern übelnahm.
Da ich Durst hatte, setzte ich mich, ohne erst auf mein Zimmer zu gehen, an einen Ecktisch und ließ mir ein Glas Bier geben. In der diagonalen Ecke saß ein Mann auch beim Biere. Wir waren vorläufig die einzigen Gäste. Er sah gelangweilt vor sich hin und blinzelte zuweilen sehnsüchtig zu mir herüber. Wahrscheinlich sehnte er sich nach Unterhaltung und taxierte mich nun heimlich darauf ab, ob ich die Person sei, bei welcher er das Gewünschte finden könne. Nach einiger Zeit stand er auf, schlenderte durch die Stube und kam dabei so nebenher auch an mir vorbei. Er blieb stehen und grüßte:
„Good evening, Sir! Schöner Tag heut, nicht?“
„Well!“ nickte ich.
Er
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