060 - Jenseits der Dämmerung
einen Moment um sein Gleichgewicht.
»Was ist los?«, fragte er.
Aruula streckte wortlos den Arm aus und zeigte auf etwas am anderen Ende des Steges.
Matt folgte ihrem Blick. Es war ein ungefähr schäferhundgroßes Tier, das dort auf seinen Hinterbeinen saß und sie mit schräg gelegtem Kopf ansah.
Er traute seinen Augen nicht. »Ein Erdhörnchen?«
»Ist das ein gefährliches Tier?« Aruula hatte sich bereits zum Kampf geduckt und schien sich weder von dem pummeligen Aussehen noch von den großen dunklen Kulleraugen des Erdhörnchens beeindrucken zu lassen.
»Zu meiner Zeit«, sagte Matt, »waren sie völlig ungefährlich. Wir haben sie immer mit Donutresten gefüttert. Natürlich waren sie da auch etwas kleiner… sogar sehr viel kleiner…«
Er hielt inne, als das Tier ein melodisches Pfeifen ausstieß, das fast schon an eine M elodie erinnerte. Wie die Töne einer Flöte schraubte sie sich empor, bis in einen für Menschen unhörbaren Bereich.
»Und das«, fügte Matt hinzu, »konnten s ie damals auch nicht.«
Das Erdhörnchen kratzte sich mit den kurzen Vorderpfoten über die Nase, wackelte mit dem Kopf und sprang vom Steg. Aruula sah ihm misstrauisch nach, bevor sie sich wieder aufrichtete.
»Mit dem Tier stimmt etwas nicht«, sagte sie. »Wieso hat es keine Scheu vor uns?«
»Vielleicht füttern die Bewohner von Pootland ihre Erdhörnchen immer noch mit Donuts.« Matt konnte Aruulas Misstrauen nicht nachvollziehen. »Vielleicht ist es aber auch ein Haustier, das sein Besitzer zurückgelassen hat. In jedem Fall ist es keine mordlüsterne Bestie, sonst hätte es uns schon längst angegriffen.«
»Da ist es wieder.«
Tatsächlich tauchte das Erdhörnchen in diesem Moment auf einem umgestürzten Lastkarren auf. Es sprang auf das Holzrad und stieß eine zweite, längere Melodie aus. Dann nahm es eine Hinterpfote zwischen die Vorderpfoten und neigte den Kopf.
»Was macht es jetzt?«
Matt seufzte. »Das Ungeheuer wäscht sich die Füße.« Er griff nach Aruulas Hand.
»Glaub mir, wir verschwenden hier nur unsere —«
Mit einem Knall flog der Steg auseinander. Unwillkürlich machte Matt einen Satz zurück, riss Aruula mit sich und entging so um Haaresbreite einer Klaue, die ihm plötzlich entgegen schoss. Etwas Dunkles bäumte sich vor ihm auf, massig wie ein Grizzly und schwarz wie die Nacht. Vorderpfoten, die groß wie Schaufeln waren, gruben sich durch den Schlamm, katapultierten den Körper unter den Steg und schlugen die Holzlatten beiseite. Splitter rasten Geschossen gleich durch die Luft. Das Krachen des Holzes, das Pfeifen des Erdhörnchens und das Schnauben des unbekannten Tiers vermischten sich zu einem ohrenbetäubenden Lärm.
Dieses Mal war es Matt, der als erstes die Erstarrung überwand. Immer noch Aruula an der Hand haltend, lief er los, über den bebenden und berstenden Steg hinweg.
»Rutsch bloß nicht aus!«, rief er. »Im Schlamm ist das Vieh schneller als wir.«
»Nicht nur im Schlamm!«, kam ihre Antwort.
Matt sah sich um. Das Erdhörnchen lief laut pfeifend über den Steg, dicht gefolgt von dem schwarzen, schlammbedeckten Wesen, dessen Rücken eine Schneise in das Holz grub. Einen Augenblick dachte Matt, das Erdhörnchen wäre ebenso ein Gejagter wie er selbst, doch dann erkannte er die Wahrheit: Es führte das schwarze Wesen, so wie ein Jagdhund, der seinen Herrn zur Beute leitet – und es kam immer näher.
Kleines Miststuck, dachte er und strauchelte, als eine Planke hinter ihm wegbrach.
Aruulas Hand zog ihn zurück in Sicherheit.
»Wir müssen uns trennen«, keuchte sie atemlos. »Er kann nicht uns beiden folgen.«
Instinktiv wollte Matt widersprechen, aber er wusste, dass Aruula Recht hatte. »Okay, da vorne, wo sich die Stege treffen. Ich laufe nach links, du nach rechts. Wir treffen uns bei den Gleitern.«
Er sah sie nicken. »Wudan sei mit dir!«
Dann war die Kreuzung auch schon heran. Matt wechselte auf den nächsten Steg, horte Aruula gleichfalls springen. Das Pfeifen des Erdhörnchens brach ab; Sekunden später verstummte auch das Krachen des Holzes.
Es funktioniert, dachte Matt. Sie wissen nicht, was sie tun sollen.
Trotz des glitschigen Untergrunds beschleunigte er seine Schritte noch einmal, versuchte so viel Distanz wie möglich zwischen sich und die Jäger zu bringen. Seine Stiefelsohlen trommelten aufs Holz, die kalte Luft stach in seinen Lungen. Mit jedem Schritt wuchs der Abstand.
Nur Sekunden schienen vergangen zu sein, als das Pfeifen wieder
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