0604 - Das steinerne Volk
gibt’s doch nicht! Die Statue kann doch nicht im gleichen Augenblick hierher teleportiert sein, als wir…«
Zamorra nickte geistesabwesend. Nicole hatte recht, auch er hatte hinter dem Glas nichts und niemanden gesehen, aber er hätte die Statue eigentlich durch die Tür sehen müssen.
Doch das war es nicht, was ihn interessierte.
Seine Finger berührten immer noch die Steinfigur.
Er fühlte etwas…
Wenn die Statue ein lebender Mensch aus Fleisch und Blut gewesen wäre, hätte er es ›Körperwärme‹ genannt.
Hier aber war es anders.
Es war nicht einmal richtige Wärme. Es war etwas, das er auf eine ihm bisher nicht bekannte Weise spürte. Etwas wie…
…das steinerne Äquivalent zur Körperwärme?
Derweil schob sich Nicole an dem steinernen Walker vorbei.
»Wenn das wirklich eine Kunstfigur ist, wenn alle diese Figuren tatsächlich aus Stein gemeißelt sind, dann ist der Künstler ein begnadetes Genie, vor dem sich selbst Leonardo da Vinci und Michelangelo verneigen müssen.«
Zamorra folgte ihr wortlos. Er tastete wieder nach dem Einstich in seinem Arm. Die verhärtete Stelle war abermals größer geworden.
Eine dumpfe Beklommenheit erfüllte ihn.
Warum reagierte das Wasser der Quelle des Lebens nicht auf das Unheimliche, das sich in Zamorra zu entfalten begann?
Es hatte ja immerhin mit dazu beigetragen, daß der mörderische Keim des Schlangendämons Ssacah abgebaut wurde, mit dem Zamorra vor geraumer Zeit einmal infiziert worden war. Damals war er nicht zum willenlosen Ssacah-Diener geworden. Jetzt aber breitete sich etwas Unfaßbares, Unheimliches in ihm aus, und es erfolgte keine Abwehrreaktion innerhalb seines Körpers…
Und auch Merlins Stern reagierte nicht!
Er folgte Nicole.
Das Gehen fiel ihm schon schwerer als zuvor.
Doch noch weigerte er sich, die Schlußfolgerung aus dem bisher erlebten zu ziehen! Einfach, weil er sich davor fürchtete und es nicht wahrhaben wollte, was mit ihm geschah.
Als sie den Korridor erreichten, sah er sich um.
»Nici!« stieß er überrascht hervor.
Sie wirbelte herum, die Hand mit dem Blaster erhoben.
Der steinerne Walker war nicht mehr allein. Drei weitere Steinfiguren standen neben ihm!
In einem absolut geräuschlosen Vorgang mußten sie in den paar Sekunden aus dem Nichts erschienen sein, als die beiden Menschen der Walker-Statue den Rücken zugekehrt hatten.
Figuren, die gestern im Park gestanden hatten.
Und immer mehr erschienen jetzt hier im Haus.
Sie begannen das Wohnzimmer zu füllen, und vor allem versperrten sie den Weg zurück nach draußen.
Aber das war noch nicht alles.
»Das wird ’ne Volksversammlung, Chef«, bemerkte Nicole.
Zamorra wandte den Kopf und sah Steinfiguren auch auf dem Korridor, den sie eigentlich gerade beschreiten wollten.
Und immer mehr Unheimliche erschienen lautlos aus dem Nichts, gerade so, als würden sie aus Weltentoren hervorschreiten. Aber diese Weltentore gab es nicht.
War es vielleicht Teleportation? Fortbewegung durch die Kraft des Geistes - oder der Magie?
Am Ende des Korridors, wo die beiden Türen zum Gästezimmer und Walkers Raum sich gegenüber lagen, erschien Lafayette.
Ebenfalls als Statue!
»Vielleicht«, raunte Nicole, »sollten wir all unsere Pläne fallen lassen und einfach ganz schnell wieder von hier verschwinden - so lange wir es noch können.«
»Tu das«, empfahl Zamorra.
»Bitte?« rief sie. »Und du? Willst du hier den Helden spielen?«
»Ich glaube, es spielt absolut keine Rolle mehr, was ich will«, erwiderte Zamorra.
Er hob den Arm, in den ihm der Arzt das unbekannte Mittel injiziert hatte, und schlug damit gegen den hölzernen Türrahmen.
Das Holz splitterte auseinander!
Stein war schon immer wesentlich härter gewesen als Holz…
Jene, die bisher gegen den Widerstand der Aggressiven versucht hatten, die Integration zu ermöglichen, konnten triumphieren. Es funktionierte.
Schon bald würde jener Andere einer von ihnen sein. Der Umwandlungsprozeß war nicht mehr zu stoppen. Es war nicht nötig, zu töten.
Jetzt mußte nur noch die andere Person umgewandelt werden. Erleichterung, Freude.
Nicole starrte Zamorra entgeistert an. Sein Arm versteinerte!
Aber seltsamerweise war dieser Stein noch einigermaßen beweglich.
»Der Arzt«, murmelte sie betroffen. »Er gehört zu den anderen, nicht wahr? Und ich Närrin habe ihn auch noch gerufen!«
»Noch bin ich nicht erledigt«, sagte Zamorra. »Es gibt immer eine Chance. Vor allem für dich, Nici. Verschwinde von hier.
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